Der Kammerjäger in uns

„Kafkas Verwandlung oder: Aus der Sicht des Käfers“

Als er nun so dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu sammeln, kaum die Augen offen hielt; in seiner Stumpfheit an eine andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und fast schon vergessen hatte, dass ihm die Wände freistanden, die hier allerdings mit sorgfältig geschnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verstellt waren – da flog knapp neben ihm, leicht geschleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken stehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, ihn zu bombardieren.
Franz Kafka: Die Verwandlung

Die Feststellung, dem eigenen Selbstbild nicht mehr zu entsprechen, eine Veränderung erfahren zu haben, derer man selbst bis zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis nicht gewahr wurde, stellt sowohl den Beginn von Kafkas Erzählung Die Verwandlung als auch von Irina Pauls Bearbeitung dieses Stoffes dar. Die erste Reaktion ist Verunsicherung, ist doch der Ausgangspunkt allen bewussten Denkens und Handelns – das Ich – nicht (mehr) das, wofür man es bislang hielt. Sämtliche Beziehungen müssen neu definiert werden: zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zum Raum im Allgemeinen. So misst sich auch zur Eröffnung des Abends ein Tänzer – das alte Ich des Gregor Samsa – an der neuen Erscheinung seiner selbst, dem Käfer. Zunächst wird dieser in Bewegung übersetzte innere Kampf mit Befremden und Feindseligkeit ausgetragen, doch werden im weiteren Verlauf der ersten Szene auch die Ähnlichkeiten und gegenseitigen Bezugnahmen immer häufiger. Es lässt sich anfangs kaum feststellen, wer der ursprüngliche Gregor Samsa und wer der Käfer ist.

Doch um eine choreographierte Nacherzählung der Geschichte handelt es sich ohnehin nicht. Vielmehr ging es ihr, so Irina Pauls, um eine Suche nach Parallelen zwischen der Biographie Kafkas und der Erzählung. In diesem Zusammenhang erschließt sie eine weiterführende Lesart des Textes im Sinne einer Auseinandersetzung mit Außenseiterpositionen und der Forderung nach Gleichberechtigung. Letztendlich führt dies Pauls zu der Überlegung: „Vielleicht war für ihn [Kafka] das Leben als Käfer kein Drama, sondern eine Vision: Lasst mich wie ich bin!“

Die choreographische Umsetzung dieser Annäherung an Kafkas Gedankenwelt entfaltet sich im ersten von zwei Teilen der Aufführung in einem trapezförmig geschnittenen Raum, der die Handlung allerdings nicht klar begrenzt: das Spiel franst zu den Rändern hin aus. Im zweiten Teil löst sich die Handlung dann gänzlich aus einem klar definierten Bühnenraum heraus und verteilt sich innerhalb der Halle. Das Publikum muss im übertragenen Sinn nun selbst Position im Geschehen beziehen, doch die Wechselwirkung zwischen Tänzerinnen und Gästen bleibt gering. Selbst wenn es in kurzen Momenten gelingt, die Zuschauer in die Szenen einzubinden, so dass diese selbst zu Handelnden werden und die Situation mitbestimmen, bleibt es nach wie vor eine schwer zu stemmende Aufgabe, aus Kulturkonsumenten plötzlich Akteure zu machen.

Dies mag auch nicht zuletzt darin begründet liegen, dass es zuweilen schwer fällt, sich in der Aufführung zurechtzufinden. Gleichsam dem Selbstfindungsprozess der zentralen Figur ist man einen Großteil der Zeit damit beschäftigt, das teilweise als kalkuliertes Chaos ablaufende Stück zu erforschen und zu verstehen, wobei sich zwischenzeitlich einstellende Aha-Effekte ebenso rasch wieder als Täuschungen verflüchtigen. Die Tänzerinnen des Leipziger Tanztheaters treten auch nicht als Figuren ins Bild, sondern „als einfache, klare, dynamische Prozesse“ (Pauls). Dies gelingt stellenweise sehr gut, zum Beispiel wenn sie gleich zu Beginn Geschäftigkeit sowie verrinnende und versäumte Zeit rings um Gregor aufbauen, verliert sich aber teilweise auch in einem beinahe schon eklektischen Durcheinander verschiedenster Gesten und tänzerischer Anleihen von fernöstlichen Bewegungstechniken bis zu Capoeira. Selbst Hip-Hop-Elemente und indischen Tanz kann man mit etwas Fantasie zwischendurch entdecken. Soll so ein Verweis auf eine universale Geltung der dargestellten Mechanismen hergestellt werden oder handelt es sich dabei um (m)eine Überinterpretation aufgrund länger anhaltender Ratlosigkeit?

Besonders hervorzuheben ist eine hervorragend choreographierte Szene, in welcher immer wieder vom Ensemble versucht wird, Gregor aufzunehmen und einzubeziehen – doch dieser hat längst festgestellt, dass er nicht dazugehören, den Ansprüchen nicht genügen kann. So versucht er zunehmend entschlossener, die Bewegungen und die Gleichförmigkeit der Tänzerinnen zu stören, ihre Selbstverständlichkeit aus dem Takt zu bringen, aber es gelingt ihm nicht. Selbst wenn er die Tänzerinnen niederreißt, erheben sich diese erneut, lächelnd vom Boden und fahren mit ihrem in dieser Undurchdringlichkeit beängstigenden business as usual einfach fort, als sei diese kleine Störung im System die Aufmerksamkeit nicht wert.

Die anfänglich zaghaften Verortungen der Figuren verdichten sich im Verlauf des Stücks immer mehr zu einer Front zwischen dem gesamten Personal einschließlich Gregor selbst einerseits und seinem ausgeschlossenen, verwandelten Ich als einsamer Außenseiter andererseits. Dies beginnt mit Aufforderungen zur Anpassung, steigert sich zu Zurückweisung und mündet schließlich in der hilflosen Resignation in der Opferrolle. Stetig mehr in die Enge gedrängt und stigmatisiert, wird Käfer von den Anderen erst immer weniger und schließlich wieder verstärkt wahrgenommen: jedoch nunmehr als ein bestenfalls interessantes, aber letztlich würdeloses Objekt. Niemand tritt jetzt mehr mit Gregor in Interaktion – es wird nur noch über ihn geredet. Nachdem die Kuriosität dokumentiert ist, wird sie samt ihrer Hinterlassenschaften von einer Armee von Kammerjägern endgültig ausgelöscht. Auf der nun desinfizierten Szenerie sind alle Probleme verschwunden und können im Rückblick als witzige Anekdoten einander erzählt werden, was in einem fröhlich geschmetterten La Cucaracha seinen Abschluss findet. Dabei ist beinahe schon vergessen, dass die Cucaracha vorher mit aller aufzubietenden Härte ausgemerzt wurde, also nur als Abwesende zu einem munteren Liedchen Anlass gibt. Damit ist Pauls bei aller zwischenzeitlichen Konfusion eine doppelbödige Schlusspointe ebenso gelungen wie eine intelligente Adaption und Übertragung des Ausgangsstoffes.

Kafkas Verwandlung oder: Aus der Sicht des Käfers

Choreografie: Irina Pauls
Tanz: Company des Leipziger Tanztheaters
www.leipzigertanztheater.de
Bilder: Rolf Arnold

29. Oktober 2008, Werk II

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