Patchwork der Befindlichkeiten

Die Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck tagt zum zweiten Mal: Im Schatten der angekündigten Katastrophe

Wenn es nämlich eine dem Menschen zukommende Fähigkeit gibt, die größte Aufmerksamkeit verdient und ans Wunderbare grenzt, ist es die, jede von außen kommende Information, sowie diese sich nicht mit eigenen Erwartungen und Wünschen in Einklang bringen läßt, von sich fernzuhalten und sie nach Belieben zu ignorieren. Erweist sich die Wirklichkeit als allzu aufdringlich, ist der Mensch zu einer Wahrnehmungssperre fähig, die alles Streiten sinnlos macht, und jeder Debatte ein Ende setzt – selbstredend auf Kosten des Realen.
Clément Rosset: Die Nichtbeachtung des Realen

Ein Argumentationstheoretiker hätte an diesem Abend seine Freude gehabt – oder einen Anfall bekommen. Denn eine ordentliche Portion Fremdschämen gehörte dazu, um diese Tagung der Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck als gelungen im Sinne spektakulärerer Unterhaltsamkeit verbuchen zu können.

Denn um Information und Einsicht ging es nur vordergründig. Thema war der Umgang mit dem nun auch offiziell mehr oder weniger akzeptierten Problem der Erderwärmung und deren katastrophischen Folgen. „Warum wird nicht konsequent, gemeinsam und zielführend daran gearbeitet, das größte Unheil vielleicht doch noch abzuwenden?“ „Wieso wird noch immer diskutiert statt zu handeln, werden Einzelinteressen gegeneinander abgewogen, wenn die Existenz aller zumindest auf dem Spiel stehen könnte?“ „Liegt dem vielleicht ein allgemeines Dilemma der Prognostik zugrunde?“ So etwa ließe sich die Frageintention des Gastgebers Guillaume Paoli zusammenfassen lassen, der sich als Fragesteller nicht ganz in Form zeigte, aber bei der späteren Publikumsdiskussion eine charmante Figur machte.

Antworten allerdings waren an diesem Abend – wie von manchem Besucher sicherlich erwartet – nicht zu erfahren. Und das hatte mehrere Gründe. Die Wahl der Podiumsgäste hätte für die Problemstellung angemessener ausfallen können. So konnte der Umweltpsychologe Jan Zoellner von der Magdeburger Universität zwar erklären, welche spezifischen Faktoren Menschen zum Umdenken führen oder eben nicht. Der größere thematische Bogen liegt allerdings jenseits der Forschungsarbeit seiner Wissenschaft. Er mühte sich redlich, diese Tatsache auch offen zulegen, und wurde dennoch vom Publikum zuweilen missverstanden. So fuhr ihn eine aufbrausende Dame – auf den Unterschied zwischen Beschreiben und Vorschreiben pfeifend – an, er würde die Argumente der Atomlobby verteidigen, nur weil er erklärte, wie sich Anwohner eines KKWs ihr Reihenhausdasein am Rande des möglichen Supergaus schönreden.

Da hätte man sich einen umfassenderen Fragehorizont beim Philosophen Dietrich Böhler, Hans-Jonas-Zentrum Berlin, vorstellen können. Da dieser allerdings zur putzigen Gattung jener Moral-Philosophen gehört, die gleich nach dem Ganzen zielen und sich daher nicht in den Niederungen der Komplexität aufhalten können, war außer Selbstversicherung nicht viel von diesem zu vernehmen. Im Typus des säkularisierten Theologen wähnte er sich, von seinen Grundfesten der Moral aus sprechend, fortwährend im Recht, wenngleich er wenig Konkretes vorbrachte. Neben dem üblichen Bashing konträrer philosophischer Positionen – er würde sie wahrscheinlich nicht einmal als solche gelten lassen, als da wieder einmal aufgeführt worden: Heidegger, Gehlen, Luhmann – pries er mit Popper unsere offene Gesellschaft, in der „wir“ alle unsere Bedenken und Wünsche artikulieren und damit auch durchsetzen könnten. Nun gut, er ist kein Sozialphilosoph, aber ein etwas realistischeres Konzept von Gesellschaft, von widerstreitenden Interessen und der Politik als Dimension der Meinung und nicht Wahrheit – so wie sie sich gegenwärtig geriert – hätte ihm nicht schlecht zu Gesicht gestanden. Vom Wissen um die unterschiedlichen Machtpositionen innerhalb von Diskursen einmal ganz abgesehen. Doch er redete lieber immer wieder in vielen Zungen von einem „wir“: Mal waren es wir, die Atomgegner, dann wir, die Wissenden um die Klimakatastrophe, oder wir als deutsche Bürger und schließlich Kosmopoliten. „Wir“ was denn nun? – Der Autor hielt sich mit einer Zwischenfrage höflich zurück.

Denn die Publikumsintervention funktionierte ohnehin reibungslos, auch wenn dabei Stringenz und Klarheit vollends auf der Strecke blieben. Dafür entrollte sich ein wunderschöner Flickenteppich der Befindlichkeiten, wurde geradeheraus artikuliert, was gerade im jeweiligen Kopf herumspukte. Am treffendsten allerdings kommentierte der geladene, aber verhinderte Musiker Rainald Grebe das Geschehen: Die zeitgleich im Haus stattfindende Probe seiner Klimarevue umspielte die Diskussionsrunde mit viel sagenden, weil opaken Melodiefetzen. Der Titel seiner Produktion lautet: Alle reden vom Wetter.

4. November 2008, Centraltheater

Zur ersten Tagung der Prüfgesellschaft:

12.10.2008
Denken auf der Bühne: „Initialzündung“ der Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck (Michael Wehren)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.