euro-scene die Vierte – Wind und Donner, das Bild der Mehrung

Nadjs „Entracte“ erzählt von der Beständigkeit des Wandels

Das wiederholte Abgründige.
Wenn du wahrhaftig bist, so hast du im Herzen Gelingen,
und was du tust, hat Erfolg.
I Ging: Kan – Das Abgründige, das Wasser

Als sich in der Peterskirche der Vorhang öffnete, wurde man eines äußerst beschränkten Bühnenraums ansichtig, welcher zumindest optisch zum größten Teil von den Musikern und ihren Instrumenten eingenommen wurde. Zwei schmale Rampen und ein knapper Streifen zwischen Bühnenrand und Musikern, mehr bespielbaren Raum gab es nicht. Was könnte sich denn da entfalten, wunderte man sich. Doch das Stück beginnt hinter einer der sechs opaken Wände im Hintergrund, auf der sich zunächst schemenhafte Bewegungen abzeichnen, bis die erste Tänzerin in den Vordergrund tritt.

Womit bereits eine Stärke der Aufführung angeschnitten wäre: Die Beständigkeit des Wandels zieht sich als Grundmotiv und roter Faden nicht nur durch die Choreografie, sondern auch durch die Dramaturgie, den Bühnenbau, die Lichtregie? Jegliche Veränderung des Bühnenraums, jede Requisite, wird nicht aus dem Off herbeigezaubert, vielmehr war sie die ganze Zeit bereits Teil des Bildes, in ihm angelegt oder verborgen und musste nur zum Vorschein gebracht werden. So gehen Bühnenbild und Handlung ineinander über, bilden ein gemeinsames dynamisches Ganzes, geben sich gegenseitig Anstoß und Anregung zu einer weiteren Veränderung, dem nächsten Wandel.

Das 3000 Jahre alte Buch der Wandlungen, I Ging, bildete die Grundlage für die Entwicklung von Entracte (Pause) und nimmt dessen Struktur von 64 Hexametern, welche wiederum 64 Zeichen und Wandlungen entsprechen, auf. Jedes Bild auf der Bühne entspricht einem Moment des Übergangs, einer kurzen Pause des Innehaltens zwischen zwei Erscheinungsformen des Belebten oder Unbelebten. Und so wie das I Ging seinen Ursprung in einer Sammlung von Orakeln hatte, aber über die Jahrhunderte durch Erweiterungen und Kommentare zu einer Sammlung von Weisheiten und einem Ausgangspunkt des chinesischen Denkens anwuchs, so bildet Entracte als Referenz an dieses Schlüsselwerk ebenfalls ein Stück, welches zahlreiche Deutungen zulässt und mehr Projektionsfläche als Programm ist: Archaische Mythen, Orakel oder Gesellschaftskritik, potentiell ist alles angelegt, aber es wird nicht proklamiert.

Die lose Folge der Bilder wird von der Musik zusammengefasst. Die langwierige Auseinandersetzung zwischen Komposition und Bewegung, welche der Entwicklung der endgültigen Fassung des Stücks vorangestellt war, wird als osmotische Durchdringung der verschiedenen Techniken spürbar. Es entsteht trotz der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit der Szenenwechsel eine bindende Kohärenz in der Gesamtatmosphäre, eine Verschränkung von Fragmenten. Im Ablauf erscheinen Bilder von stiller Zurückhaltung, surrealer Phantasmagorie und Rätselhaftigkeit, welche zwischen universeller Lesbarkeit und auf immer verborgener Chiffrierung pendeln. Die Offenheit der Formensprache und des Personals (es gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass ein Tänzer im Verlauf dieselbe Figur oder Entität repräsentiert – auch dies ist ständigem Wandel unterworfen) überlässt die Weite des Deutungsspielraums dem Publikum, ohne es in die Rolle einer stetig ratternden Dechiffriermaschine zu drängen. Man kann sich ebenso der reinen Sinnlichkeit des Stücks ausliefern. Das Grundmotiv Wandel ist hierfür ein dankbares Thema, um einen Wechsel von Anspannung und Erschlaffen, Harmonie und Individualität, Abhängigkeit und Freiheit, den basalen Werkstoffen des körperlichen Ausdrucks aufzureihen.

Nadj gelingt es dabei trotz des fehlenden erzählerischen Rahmens sowohl formal innovativ und originell zu sein, als auch das Auge selbst eines verwöhnten Publikums anzuregen und herauszufordern. Entracte wird damit zu einer im besten Sinne ambivalenten Darbietung, welche einerseits einen hohen Anspruch an die Zuschauer stellt und gleichzeitig eine Tür zu einer ausnehmend sinnlichen Herangehensweise aufstößt.

Entracte

Im Rahmen der euro-scene Leipzig 2008
Choreografie: Centre Choréographique National d’Orléans/Josef Nadj
Tanz : Marlène Rostaing, Ivan Fatjo, Peter Gemza, Josef Nadj

www.josefnadj.com

04. und 05. November 2008, Peterskirche

Mehr zur 18. euro-scene:

12.11.2008
euro-scene die Dritte: Alain Platels „pitié!“ ist virtuose Meditation über den Schmerz (René Seyfarth)

11.11.2008
euro-scene die Zweite: „2nd ID“ geht in die Produktion (René Seyfarth)

09.11.2008
euro-scene die Erste: Woyzeck als zeitlos schönes Tanztheater (Torben Ibs)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.