euro-scene die Fünfte – Die Nacht der Lebenden, Toten und Dämonen

„Ipsum – önmagadat“ und „Panoptikum der Träume“ an einem sinistren Abend

Äußerst sinister konnte sich der Freitag auf der euro-scene gestalten. Denn mit Ipsum und Panoptikum der Träume waren nacheinander zwei abgründige Produktionen zu sehen, die sich nicht dem Guten und Schönen verschrieben haben, sondern die letzte Frage im Blick haben und mit der Ambivalenz von Welt wie Schöpfung spielen.

I
Die Analogie der Gegensätze ist das Verhältnis von Licht und Schatten, Gipfel und Abgrund, Fülle und Leere. Die Allegorie, Mutter aller Dogmen, ist die Substitution des Stempels durch den Abdruck, der Wirklichkeit durch die Schatten, sie ist die Lüge der Wahrheit und die Wahrheit der Lüge.
Eliphas Lévi: Dogme de la haute magie (zit. n. Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel)

Den ersten Teil des dunklen Abends bildete Ipsum. Die nebulöse Aufführung des ungarischen Ensembles The Collective of Natural Disasters (Gemeinschaft oder Kollektiv der Naturkatastrophen?) wartete nicht mit Erklärungen auf, gestaltete sich vielmehr als raunendes Ereignis, das sich wie eine Spurensuche nach dem Menschen lesen lässt.

Eine Wahrsagerin vom Band heißt die eintretenden Zuschauer willkommen und spricht in Rätseln. Es ist eine jener TV-SpökenkiekerInnen, die für 1,49 Cent die Minute allerlei Unsinn unter gläubigen oder auch nur einsamen Anrufern verbreiten. Sie plappert irgendetwas vom Anhalten der Uhr, dass die Kategorien Raum und Zeit aufgehoben seien und hat damit für diesen Abend irgendwie Recht. Am Tresen der sich den gesamten vorderen Bühnenrand entlang zieht, taucht schließlich der Kopf der Spielerin (Ágens) aus einem Wassertrog auf. Diese Art Küchenzeile mit Kochstellen, Becken, und allerhand Gerät ist die Bühne, auf der die Spielerin als Demiurgin, Hexe, Schamanin agiert.

Die Textgrundlage bildet ein Fragment aus den Qumran-Rollen, das Anweisungen für die Zubereitung von allerlei Speisen gegenübergestellt wird. Wahrscheinlich hermetischen Ursprungs spricht im Text Der Donner, vollkommener Geist, der alles in sich vereint, Widersprüche einebnet, Dialektik in Totalität aufhebt. Es ist ein Dämon, von dem man nicht weiß, ob er die Welt verdammen oder umarmen will. Die Texte rezitierend, gibt die Spielerin mit dem Kücheninstrumentarium hantierend die (Ent-)Schöpfung des Menschen. Ihr wichtigstes Darstellungsmittel ist hierbei ihr Körper selbst. Sie führt zahlreiche Momente der Entblößung, des Sezierens und Entäußerns auf. So spuckt sie Wasser und Wein, füllt ihren Atem in Plastikbeuteln ab. (Lebensluft – Odem – Pneuma?) In quasi-ritueller Manier mischt sie ihr Blut mit Haaren und Nägeln und vollzieht eine Art Zauber, zerteilt eine Zunge oder ähnlichen Fleischbatzen und spielt mit den Stücken. Verschüttete Gegenstände (Erinnerungen?) werden aus einem Sandbecken hervorgeholt. Immer wieder inszeniert die Protagonistin das eigene Ertrinken – öfters über Sekunden angedeutet, endet das Stück schließlich in ihrem minutenlangen Kopfuntertauchen, wird der/die ZuschauerIn VoyeurIn eines vermeintlichen Erstickungstodes. Diese Alchimistenküche des Ich zielt besonders auf die Materialität des Menschen, unsere Körperlichkeit. Hinzu kommt das Spiel um Weiblichkeit: Der Name des Stücks ist das lateinische Neutrum, während die Spielerin ihre Formen durch ein Lack-Dekolleté unterstützt offen präsentiert.

Künstlicher Nebel und der Qualm von angebranntem Teig besorgten den olfaktorischen Rahmen dieser Teufelsküche, elektronische Klänge, Rauschen und Pfeifen bildeten den akustischen. Verschiedene Rückkopplungseffekte setzen die aufgeführten Fragmente auf dieser Ebene miteinander in Bezug. Die für den Autor unverständlichen, liturgisch anmutenden Gesänge intensivierten die Aura des Okkulten, in der einen das Gefühl beschlich, einem geheimen Ritual beizuwohnen, in der ein Dämon die Frage nach dem Menschen mit einem Rezept zu beantworten scheint.

II
Kommst du, das Fest des Lebens mit feixendem Gesicht
Zu stören? Oder treibt dich älteres Verlangen.
Daß dir noch immer die lebendigen Knochen sticht,
Daß du zu dem Spektakel der Lüste hingegangen?
Charles Baudelaire: TotentanzPROGRAMM tot

So beginnt ein Nachlassfragment Heiner Müllers zur Todesanzeige. Mit diesem und anderen Texten des Dramatikers wird das Orphtheater bei der euro-scene zu sehen sein und damit letztmalig auf einem Festival. Denn das Theater, eine der ältesten freien Bühnen Berlins, muss zum Jahreswechsel den Spielbetrieb einstellen.

Gallige Ironie, dass sich das Orphtheater mit einem Todes-Spiel verabschieden muss. Ein Fingerzeig, der auf den eigenen Bankrott anspielt, ist dies allerdings nicht. Scheitern und Versagen sind schon oft sein Thema gewesen, denn eine Gesellschaft, die sich vorgeblich durch Leistung definiert, erzeugt automatisch ein Heer von Verlierern. So lässt sich auch im Panoptikum der Träume einiges an Aktualität entdecken. Müllers Texte sind düstere Nekrologe – Todesanzeige zum Beispiel entstand nach dem Selbstmord seiner Frau -, bitter und von Galgenhumor durchzogen. Regisseur Uwe Schmieder setzt sie als Revue um, die in den letzten Stunden des Sex-Pistols-Bassisten Sid Vicious angesiedelt ist. Im ungebändigten Reigen kommt extensiv Musik – Live-Punkband inklusive – zum Einsatz. Zwischenspiele wie Chorpassagen und Puppentheater setzen Kontrapunkte im bisweilen lauten und aggressiven Totentanz.

Immer wieder schleichen sich Kriegsepisoden, Auszüge aus Mauser in die Revue: das Gras noch müssen wir ausreißen, damit des grün bleibt. Ein Chor sozial Abgehängter – Hartz IV sind das Volk! – gibt Obdachlosenlieder. Das Utopische des Kommunismus wird in der real existierenden DDR-Umsetzung ertränkt und plötzlich hereinbrechende Schlagermelodien repräsentieren – frei nach Adorno das Gefühlssurrogat zur Reproduktion der Arbeitskraft und zum Einlullen individueller Begehren – die gegenwärtige sich nicht weltanschaulich gebende Konsumerismus- Ideologie: Schön ist es auf der Welt zu sein. Ein auftretender Engel der Verzweiflung trägt Spuren von Benjamins Engel der Geschichte, der auf die Vergangenheit schauend Tote zurückholen und Scherben neu fügen will – nur ein Sturm des Fortschritts reißt ihn in die Zukunft mit, die einzig ein Trümmerfeld aus Katastrophen darstellt. – verboten die frage wozu die zu leicht von den lippen geht der tod ist das einfache sterben kann ein idiot. (Heiner Müller)

Bisweilen eine Spur überzogen, ausgefranst und manches Bild zu breit ausgewalzt – Müssen die wirklich ein weiteres Pionierlied trällern? – vermittelt diese Tour de Force doch ein Gespür für die Abgründigkeit unseres Daseins, dessen polierter Oberfläche kein Sinn anhaften will, das keine Träume mehr zulässt. Schade allerdings, dass ein untoter Hamletdarsteller nach längerer Pause die Frage nachschob und damit die Pointe verdarb:

Sein oder Nichtsein, das ist hier.Es wundert sich der Tod, wie allerorts, allzeit
Die Menschen lächerlich sich an der Sonne winden;
Und auch nach Myrrhe duftend will er ihre Tollheit
Oftmals mit seiner Ironie verbinden!
Charles Baudelaire: Totentanz

The Collective of Natural Disasters: Ipsum – önmagadat (Ipsum – Du Selbst)
Inszenierung: György Árvai
Spiel: Ágens
Hochschule für Musik und Theater
Orphtheater: Panoptikum der Träume
Inszenierung: Uwe Schmieder
Darsteller: Nicole Janze, Wolfgang Scheidt, Matthias Horn, Antje Görner, Matthias Hille u.a.
Im Rahmen der euro-scene Leipzig 2008
7. November 2008, Spiegelpalast in der Kongresshalle

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