Erfüllte Erwartungen

Dietrich Hilsdorfs Neuinszenierung von Janáceks „Jenufa“ an der Leipziger Oper wurde begeistert gefeiert

Es ist Adventszeit, die Zeit der Erwartung. Auch das Leipziger Opernpublikum ist voller Erwartungen an die weitere künstlerische Entwicklung dieses Hauses. Wird es gelingen, diese an Gegensätzen überreiche Saison noch auf Konsolidierungskurs zu bringen und an das anzuknüpfen, was sie bis jetzt an Vielversprechendem zu bieten hatte? – Was vor einigen Wochen wegen der provokanten Nonchalance eines jungen Bilderstürmers noch völlig undenkbar schien, ist jetzt Gewissheit: Die Chancen darauf, dass die Oper sich zu einem überregional wahrgenommenen Zentrum des Musiktheaters entwickeln könnte, stehen im Augenblick jedenfalls besser als je zuvor. Denn mit Dietrich Hilfsdorfs Inszenierung von Leoš Janácek Jenufa, die am Sonnabend, dem 29. November 2008 Premiere feierte, hat die Oper ein gleichermaßen gesangliches, musikalisches und regietechnisches Meisterstück vorgelegt, das eindrucksvoll vom enormen Leistungspotenzial der Leipziger Oper kündet, das es nun von kundiger Hand zu pflegen und weiterzuentwickeln gilt. Eine ganze Viertelstunde lang dauerte der begeisterte Applaus an diesem Premierenabend, der nicht zuletzt von einer auffälligen Zahl an jüngeren Gästen ausging, in stehenden Ovationen endete und der zu Recht ausdrücklich allen Beteiligten dieser Inszenierung und dieser Aufführung gilt. Ohne Zweifel lässt sich sagen, dass Hilsdorfs Interpretation von Janáceks Jenufa eine glückliche Verbindung günstiger Konstellationen ist, die der Oper in dieser angespannten Situation eines neuen Selbstfindungsprozesses sehr wohltut und die Maßstäbe für künftige Projekte setzen dürfte.

Herausragend ist vor allem anderen, dass die zwei wichtigsten Partien der in tschechischer Originalsprache aufgeführten und im übrigen mit sehr guten Gästen besetzten Oper von Ensemblemitgliedern bestritten werden konnten, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Marika Schönbergs Jenufa besitzt ebenso wie Susan Macleans Küsterin die besondere Begabung, all die dunkle Tiefe, die Leidensfähigkeit, die fatalistische Verstrickung und Verzweiflung dieser Figuren sowohl in musikalischer als auch mimisch-gestischer Darstellungskraft sichtbar und hörbar zu machen, die dieses düstere Trauerspiel Janáceks von der ersten bis zur letzten Note durchzieht. Um Kindsmord geht es, um Verzweiflungstaten der Liebe, um die Moralität der Ehe, um die entsetzliche, beängstigende und unerklärliche Liebe von Müttern zu ihren Kindern, um die unergründliche Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, um die Motive von Schuld, um die Tragfähigkeit des Vertrauens in den Glauben an die Liebe und an die Liebe Gottes. Das ist ein düsterer, schwergewichtiger Stoff, der von Janácek in ein subtil ausgesponnenes Netzwerk von Sprechmelodien und seismographisch genauer Abbildung von Sprachausdruck, gestischem Ton und musikalischer Struktur eingearbeitet worden ist. Man hört, Dank der Kraft der tschechischen Sprache, deren Nuancen Janácek mit seherischem Feingespür zu beobachten verstand, das Leiden der Figuren. Seine Musik lässt sowohl die ausgesprochenen als auch unausgesprochenen Beweggründe nachempfinden, sodass sie zu einem bedrückenden Psychogramm des Leidens, von Schuld und Verstrickung, aber auch zum hörbaren Ausdruck des Fatums wird. In rhythmische Motive, in einzelne Instrumente gar ist dieses spannungsreiche Leiden sparsam und wohlabgewogen hineingelegt, aber auch mit großem Atem verströmt sie, wie Janácek selbst es formulierte, „Sphärenklang“. Diesem ganzen Kosmos, der von den feinnervigen Anklängen an unausgesprochenes Denken bis zum stürmisch-tragischen Hereinbrechen des Schicksals reicht, wird Axel Kober mit seinem sensiblen und präzisen Dirigat des nicht minder umsichtigen Gewandhausorchesters in jeder Hinsicht gerecht.

Ähnlich wie in seiner Leipziger Inszenierung der Entführung aus dem Serail hat Hilsdorf auch diesmal wieder das Szenarium mit der Präzision eines guten Filmes einstudiert und umgesetzt: abwechslungsreiche Bewegungsabläufe, psychologisch feinsinnig motivierte Personen- und Figurenführung, starke realistische Bilder, eindrucksvolle Kulissen und bedenkenswerte Kontraste bestimmen das Ganze und das Detail. Die Handlung ist in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verlegt: bestimmt und unbestimmt zugleich. Das erste der drei wunderbar vieldeutigen Bühnenbilder von Dieter Richter besteht aus einer täuschend echten mimetischen Milieustudie eines Hinterhausetablissements in Mähren, die nichts Genrehaftes hat, sondern wie aus einem Video wirkt. Der Zuschauer schaut hier von außen durch die hohen Glasfenster in das Restaurant hinein. Aus den Hinterhoffenstern des Backsteinbaues, auf der Straße und in dieser kleinstädtischen Szenerie agiert mit präziser Spiel-, Bewegungsfreude und gesanglich eindrucksvoll der Chor. Symbole, die über die Mimesis hinausweisen, sind die bereits an dieser Stelle begegnende vieldeutige Figur der Maria mit dem Kinde (auf einer Regentonne), die den Zuschauer als Leitmotiv durch alle Szenen begleitet. Richters geschickt entworfene Bühnenbilder arbeiten mit Fenstern, die auf weitere Welten verweisen. Sie eröffnen den Blick von außen nach innen in die Häuser wie im ersten Bild. Im zweiten Bild, das ein Kircheninneres mit dem Blick in die kalte, schneesturmumwehte Nacht darstellt sowie im dritten Bild, das ein verkommenes öffentliches Gesellschaftszimmer mit einem sozialistischen Wandfries zeigt, wird der Blick durch das Fenster nach draußen eröffnet. Solche Fensteröffnungen deuten Geschehenes an, sie sind äußerlich sichtbarer Rahmen für einen inneren Vorstellungsvorgang. Denn Hilsdorf gelingt es, sie so in die Inszenierung einzubauen, dass sie gedanklich in der inneren Vorstellung des Zuschauers weitere Räume eröffnen, die über das unmittelbar Dargestellte hinausweisen. Großartig ist der Gedanke, dass Jenufa ihr uneheliches Kind in den Katakomben, im Ossarium der Kirche zur Welt bringt und dass es in einem sakralen Raum, in dem die Mutter Gottes mit dem Jesuskind diagonal auf den erst verhüllten, dann von der sich versündigenden Küsterin enthüllten gekreuzigten Jesus schaut, zu Silvester umgebracht wird. Wie viel mehr bedeutet dies, als die Szene des Hauses der Küsterin in der Vorlage! Hilsdorf deutet diese Szene überdies zu einem verwirrend irritierenden Spiel mit dem Jesuskind als Schaupuppe in der Kirchenkrippe und dem kleinen geopferten Kind Jenufas um. Durch Bilder wie diese wird die entscheidende Perspektive eröffnet, um die Welt in allen ihren Widersprüchen und Gegensätzen sichtbar zu machen, die zugleich in den Personen auch psychologisch nachvollziehbar werden. Wie das Volk, statt Jenufa zu steinigen, mit Eisbrocken wirft, die auf das ertränkte Kind deuten, das im eisigen Fluss gefunden wurde, ist ein weiteres dieser starken Bilder. Stets begegnen Gegensatzpaare wie Feuer und Eis, innen und außen, heiß und kalt, hell und dunkel, Leben und Tod in ihrer sinnvollen Anwendung auf das Geschehen. Eine Fülle starker Bilder lädt dazu ein, diese Inszenierung nochmals sehen zu wollen. Bei Hilsdorf geht es eben nicht nur um den moralisch verwerflichen Kindsmord und um Gesellschaftskritik, sondern er hat versucht, den ganzen Problemkreis der christlichen Theologie in seiner Verstrickung mit dem leibhaftigen Leben zu konfrontieren. Jede Person dieser Oper ist in seiner Lesart Sünder und Gerechter zugleich. Wirkliche Größe haben jedoch die beiden eigentlichen Sünder, die die Kraft haben, sich gegenseitig zu verzeihen. Laca, der Jenufa liebt und verstümmelte, um seinen hedonistischen Bruder Števa auszustechen, von dem Jenufa ein Kind erwartete und der sie nur wegen ihrer äußerlichen Schönheit liebte, verzeiht Jenufa. Und Jenufa verzeiht ihrer Mutter, die ihr Kind tötete, und sie verzeiht Laca, der sie verstümmelte. Dass beide die Kraft haben, sich gegenseitig zu verzeihen, ist von der christlichen Botschaft getragen und weist weit über den angedeuteten Katholizismus hinaus. Dies ist die unerhörte Begebenheit dieser Oper. Die wortwörtliche Umkehr von Jenufas Mutter, die nach dem Geständnis des Mordes an Jenufas Kind einen Läuterungsprozeß durchläuft, indem sie zusammen mit dem Richter und mit dem Rücken zum Publikums – von Jenufa freigesprochen – ihrem weltlichen und geistlichen Richterspruch entgegensieht, ist ein weiteres Bild, das die christliche Theologie in Reinform enthält. Doch Hilsdorf hat solche religiösen Anspielungen auch in humorvolle Details übersetzt. Wenn die quicklebendigen Schäferhunde der Soldaten, die Hilsdorf analog zum Auftritt eines leibhaftigen Pferdes in seiner Inszenierung der Entführung aus dem Serail in Szene setzt, im sprichwörtlichen Schafspelz über die Bühne huschen, dann ist auch das Tier in seiner Verstrickung gezeigt. In so einer aufwühlenden Oper ein solches witziges Detail eingefügt zu haben – auch das ist ein starkes Stück. Dass Dietrich Hilsdorf und sein Inszenierungsteam unbedingt an die Oper Leipzig wiederkommen müssen, ist nach einem solchen erfolgreichen Abend hoffentlich längst ausgemacht!

Jenufa
Oper in drei Akten von Leoš Janácek
Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Dietrich Hilsdorf
Bühne: Dieter Richter
Kostüme. Renate Schmitzer
Mit Susan Maclean, Marika Schönberg,
Diane Pilcher u.a.
Chor der Oper Leipzig
Gewandhausorchester
Oper Leipzig

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