„Tagebuch eines Verschollenen“

Janáceks Liederzyklus wird pünktlich zur „Jenufa”-Premiere szenisch adaptiert

Hinter dem Gazevorhang, auf dem die Titelseite einer alten tschechischen Zeitung projiziert ist, kommt ein Paar hervor und scheint somit aus dem fiktiven Rahmen herauszutreten. Gleich zu Beginn der szenischen Einrichtung von Leoš Janáceks Tagebuch eines Verschollenen im Kellertheater der Leipziger Oper wird so der Bezug zur Ursprungslegende dieses Liederzyklus‘ hergestellt, der auf eine Folge von 23 kurzen anonymen Gedichten zurückgeht, veröffentlicht im Mai 1916 in der Brünner Tageszeitung „Lidové noviny“ und der „Feder eines Autodidakten“ zugeschrieben. Einem redaktionellen Kommentar war zu entnehmen, dass aus einem mährischen Dorf auf unerklärliche Weise ein Bauernbursche verschwunden war. Nachdem man zuerst ein Verbrechen annahm, habe man einige Tage später seine Aufzeichnungen gefunden, in denen er seine Liebe zu einer Zigeunerin schildert. Da er infolgedessen um seine gesellschaftliche Reputation fürchtete, habe er zusammen mit der Geliebten und dem inzwischen gezeugten Sohn schweren Herzens seine Heimat verlassen. Vielleicht hat gerade diese volksliedartige Anonymität Janáceks Interesse an der Komposition des Tagebuchs eines Verschollenen geweckt, das nach seiner Brünner Uraufführung im Jahre 1921 alsbald europaweite Popularität erlangte. Erst 76 Jahre später konnte die Entstehungsfiktion aufgelöst und der mährische Regionalschriftsteller Ozef Kalda als Urheber der Gedichte bestimmt werden, was der Bedeutung von Janáceks Liederzyklus jedoch keinen Abbruch tat.

Eine szenische Adaption des Tagebuch eines Verschollenen empfiehlt sich allerdings nicht nur als musikalischer Vorgeschmack auf die Jenufa-Premiere, sondern in erster Linie wegen der thematischen Parallelen zwischen beiden Werken. Hier wie dort steht – in Perspektive und Ausgang variierend – die Geschichte einer Liebe im Mittelpunkt, der durch restriktive Moralvorstellungen aufgrund eines außerehelich gezeugten Kindes per se die Akzeptanz verweigert würde. Um dies zu vermitteln, verdoppelt Regisseurin Gundula Nowack die Handlung und lässt das Tagebuch eines Verschollenen vor dem eigentlichen Liederzyklus bereits tänzerisch erzählen. Montserrat León, die selbst 14 Jahre lang dem Leipziger Corps de Ballet angehörte, choreographiert zu Janáceks Klavierwerk Im Nebel (1912) und seiner Sonate für Klavier und Orchester (1914/21) die Geschichte von Janík, der trotz Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, aber auch vor einem eigenen Identitätsverlust zusehends den Reizen der schönen Zigeunerin Zefka verfällt. Das Tagebuch wird Janík zur letzten Verbindung mit seiner ursprünglichen Welt, ist ebenso Rückzugsort wie neurotische Pflicht. Nicht zuletzt dank ihrer ausgezeichneten Tänzer Meylem González und Frank Schilcher gelingt León ein verstörend schöner Pas de deux, in dem sich die Gegensätzlichkeit beider Protagonisten in ihrer durchaus auch triebhaften Anziehung nur allmählich zu versöhnen scheint, bis sie letztendlich zu einer gemeinsamen Harmonie finden und wieder hinter den Vorhang in eine – wenn auch ungewisse – Zukunft treten. Dabei zeichnet sich die Choreographie durch eine überraschende, mitunter affektive und ungehemmte Beredsamkeit des Körpers aus, wie man sie im Leipziger Ballett schon lange nicht mehr zu sehen bekam.

An diesen intensiven ersten Teil anzuknüpfen, ist freilich nicht einfach. Von daher tut Gundula Nowack gut daran, dass sie das Tagebuch eines Verschollenen aus zeitlicher Distanz zur eigentlichen Handlungsebene inszeniert. Ein gealterter Janík erinnert sich an die Liebe zu Zefka, aber auch an die damit verbundenen Ängste, weshalb er sich seinerzeit gegen sie entschieden hat. Die Lektüre des Tagebuchs lässt ihn die Vergangenheit erneut erleben und letztendlich als einen an der eigenen Schuld Zerbrochenen zurück. Prinzipiell ein guter Gedanke, doch vermag er nicht über die gesamte Dauer der rund 20 Lieder zu tragen, sodass – gerade hinsichtlich des romantisierten Bildes von der verführerischen Zigeunerin – hie und da Handlungskonventionen vorherrschen. Einiges von der Vielschichtigkeit des Werkes erschließt sich deshalb vorrangig Musikalisch, in dem vorzüglichen Zusammenspiel Rudolf Conrads (Violine) und Stefan Knoths (Klavier), in Geneviève Kings geheimnisvollen dunklen Timbre und Martin Petzolds gewohnt prononcierter Ausdeutung der Liedtexte.

Den Einschränkungen zum Trotz ist diese Adaption von Janáceks Tagebuch eines Verschollenen fürs Kellertheater mehr als begrüßenswert, da sie weitere Facetten eines Komponisten beleuchtet, dessen Bühnenwerke in Leipzig allzu lange nicht zu erleben waren. Vor allem aber aus dem Grund, dass diese Produktion mit für die Öffnung des Opernhauses steht, über den eigentlichen Repertoire-Betrieb hinausgehend weitere Möglichkeiten zur künstlerischen Auseinandersetzung und zum Dialog zu bieten.

Tagebuch eines Verschollenen
Inszenierung: Gundula Nowack
Choreographie: Montserrat Leon
Tänzer: Meylem González, Frank Schilcher
Sänger: Geneviève King, Martin Petzold
Klavier: Stefan Knoth
Violine: Rudolf Conrad
Kellertheater der Leipziger Oper

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