In 80 Minuten durch Goethes Klassiker und durch Fausts Kopf

In „Faust spielen“ wagen sich das Figurentheater Wilde&Vogel und Christoph Bochdansky mit viel Ironie an einen Klassiker und geben der Tragödie erster und zweiter Teil als bilderreiches Panoptikum

Ich träumte, es würde ein Tag kommen, an dem ich vorweg wüsste, was ich sagen wollte, und an dem ich nichts mehr zu tun hätte als es zu sagen. Es war ein Altersreflex. Ich malte mir aus, ich wäre endlich in dem Alter angekommen, wo man nur noch abzuspulen hätte, was man im Kopf hat.
Michel Foucault: Die Sorge um die Wahrheit

Zusammengesunken kauert der greise Faust in einer Ecke des Bühnenraums. Weder Mangel, Not noch Schuld konnten ihm etwas anhaben. Doch die Sorge macht ihm zu schaffen. Als vogelartiges Wesen tritt sie an den Doktor heran, blendet ihn mit langem Stachel und zieht sein Augenlicht als blutig-roten Faden aus den leeren Höhlen. Auf seine Innenwelt zurückgeworfen, besinnt sich Faust auf Stationen seines Lebens und eine retrospektive Achterbahnfahrt durch eine unheilige Existenz beginnt, die mit dem Teufelspakt in der Studierstube ihren Anfang nahm.

Wir erinnern uns: Heinrich Faust, fächerreich studiert und forschenden Charakters resümiert sein bisheriges Leben. In der Quintessenz, so Fausts Urteil, sei er zu keiner tieferen Wahrheit vorgestoßen und hat noch immer keinen Schimmer, was die Welt sprichwörtlich „im Innersten zusammen hält“. Der diabolische Mephisto bietet dem Ratsuchenden seine Hilfe an: Schon bald verführt Faust ein unschuldiges Mädchen, begeht Totschlag und verzagt an der Gretchenfrage. Vom Einzelschicksal wendet sich das Geschehen ab und wird zum Gesellschaftsdrama, wenn Faust hernach durch die Zeiten reist und für einen mittelalterlichen Kaiser fechtet, die holde Helena schwängert, zum visionären Lehnsherrn wird.

Das Figurentheater Wilde&Vogel und Christoph Bochdansky haben Goethes Zweiteiler in einen rasant geschnittenen Streifen in Fausts Kopfkino verwandelt. Die Koproduktion mit dem Leipziger Lindenfels Westflügel und Stuttgarter FITZ! ist eine wechselhafte Tour de Force durchs Klassikeruniversum: Szenische Tableaus scheinen kurz auf, um schon von einem anderen ersetzt zu werden, das in diesem bilderreichen Panoptikum den nächsten Akt gibt. Wie beim flinken Durchblättern eines Leporellos passieren sie Revue, erfahren die Zuschauer in 80 Minuten, wie sich Fausts Wille zum Wissen im Scheitern entlädt.
So verschwimmen die Szenen, und wessen Faust-Lektüre bereits etwas zurückliegt, der wird sie nicht alle genau einordnen können. Das macht aber gar nichts, weil die Inszenierung durch ihre Eigenständigkeit besticht. Nicht zuletzt ist der Mut zu loben, sich gerade dieses Klassikers angenommen und ins Wilde&Vogel-Format überführt zu haben – und das ohne allzu große Erfurcht vor der Vorlage. Hemmungslos bricht sich die Spielfreude Bahn, triumphieren dem Tragödienthema zum Trotz die witzigen Momente. Dabei schaffen es Vogel und Bochdanksy mit wenigen Mitteln ihr effektvolles Spiel zu gestalten. Zur Walpurgisnacht genügt dem Duo ein Pferdehuf und etwas Nebel reichen, um in aller Zügellosigkeit die Schwarze Messe zu zelebrieren. Helena steht als antiquierte Statue in einem Waschtrog wenig anmutig im Raum. In berühmter Goethepose auf dem Divan liegt ein goldbestückter Faust einmal da und schaut in die Landschaft. Auch sind in diesem Stück viele technische Tüfteleien und raffinierte Details zu erleben, die als Markenzeichen von Michael Vogels Ausstattung gelten dürfen. In dieser Hinsicht am wunderbarsten nimmt sich die Laboratoriumsszene aus. Der Homunkulus tritt en miniature auf: Eine Plastikflasche ersetzt die Phiole, in der sich das elektrisch betriebene Figürchen wütend-bebend aufführt und sein Gehäuse verlassen will. Dabei fehlt ihm Draußen die Lebensluft. Mitleid erzeugt eine kleine Schnecke, die an der Bühnenperipherie entlang zuckelt, bis sie schließlich Opfer eines brachialen Stiefeltritts wird. Begleitet, untermalt und bereichert wird das Bühnengeschehen durch Charlotte Wilde, die mit experimentellen Klanginstallationen einen angemessenen Soundtrack live erschafft.
Faust spielen ist mal derb, mal zart, ist zünftiges Kasperltheater, wildes Handgemenge und Possenreißen, rauschhaftes Treiben, düsterer Reigen und Mysterienspiel. Ironisch durch und durch, ist diese Adaption des tragischen Goethestoffes, der das Faustische als Grundmotiv der Moderne erkennt, so gar kein Trauerspiel.

Faust spielen
Figurentheater Wilde & Vogel, Christoph Bochdansky
www.westfluegel.de
Regie: Christiane Zanger
Spiel: Michael Vogel & Christoph Bochdansky
Musik: Charlotte Wilde
Premiere: 16.10.08, Lindenfels Westflügel

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