Es tickt und klingt anders

Von Mussorgsky bis Massenet: zwei Konzertabende in New York

Über den Jahreswechsel 2008/2009 gelingt es leider nicht, in New York ein klassisches Konzert mit Neuer Musik ausfindig zu machen, auch die Musiktheaterproduktionen halten sich an den gängigen Kanon – Zauberflöte, La Boheme. Da ist die selten gespielte Oper Thais von Massenet schon ein kleiner Lichtblick und mit Renée Fleming als liebestoller Kurtisane Thais dann auch ein wirklicher Genuss. Entzückend frisch sind die Szenen, in denen sie ihrer Profession nachgeht, ihr farbiger Hofstaat turtelt und tanzt bezaubernd. In der fast ausverkauften Met mit ihren 4000 Sitzplätzen muss man allerdings erst mal seine europäischen Vorstellungen eines Opernabends über Bord werfen. Ein allgemeiner Dresscode scheint nicht zu existieren, Turnschuhe sind die Regel, legere Freizeitkleidung ist angesagt. Man fragt sich, wo denn die viele tausend Dollar teuren Kleider der 5th Avenue getragen werden. Nicht genug der ungewöhnlichen Garderobe, Mäntel und Jacken, den tiefen Temperaturen entsprechend ziemlich dick, werden einfach über die Lehne gehangen oder unter den Sitz gequetscht. Die drei Akte der Oper sind relativ kurz, dafür die Pausen relativ lang oder, anders gesagt, lang genug, um im Restaurant des riesigen Foyers ausgiebige Diners einzunehmen. Wem dazu das nötige Kleingeld fehlt, der kauft sich ein Sandwich und einen Kaffee im Pappbecher.

Pappbecher gab es auch in der Avery Fisher Hall zum Konzert der New Yorker Philharmoniker unter ihrem Chef Lorin Maazel. Das Programm ist für europäische Ohren ungewöhnlich, im Anschluss an das Zweite der Brandenburgischen Konzerte von Bach erklingt die Sinfonie Nr. 4 von Szymanowski. Nach der Pause die Burleske von R. Strauss und zum Schluss Mussorgskys Bilder einer Ausstellung.

Bach in New York klingt anders, ehrlicherweise muss man sagen, klingt das Konzert heute hier gar nicht gut. Das erste, eher intime kammermusikalisch angelegte Stück verpufft im riesigen Konzerthaus, die vier Solisten geben technisch ihr Bestes, doch ein intensives Zusammenklingen stellt sich zu keiner Zeit ein. Das folgende Stück verträgt die riesige Halle schon besser, den extrem anspruchsvollen Klavierpart von Szymanowskis 4. Sinfonie meistert Emanuel Ax mit Bravour und Lorin Maazel gelingt es, den kreativen Orchesterpart behutsam mit dem Solisten zu verweben. Richtig in ihrem Element sind die Philharmoniker dann bei Mussorgsky. Schicht um Schicht stapelt Maazel die originellen Einfälle der Partitur, er entwickelt eine tolle Dramaturgie der Pausen und das Orchester folgt superscharf den anspruchsvollen Übergängen vom Forte ins Piano. Ist das der Klang New Yorks? Der jazzige Groove erinnert an den Sound der unzähligen Jazzklubs, die weichen Holzbläser würden die hiesige Jazzszene ohne Zweifel sehr bereichern.

New York klingt und tickt anders und in der Summe ergeben sich interessante Linien: Der Mussorgsky der Philharmoniker schlägt den Bogen zum Jazz, und erinnert die Farbigkeit der Thais in der Met nicht an lebensfrohe Gospels und Spirituals in Harlem? Erfrischend ist die physische Vitalität des (Musik-)Lebens hier. Da sieht man auch mal über einen Pappbecher hinweg.

Avery Fisher Hall

Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 2
Karol Szymanowski: Sinfonie Nr. 4
Richard Strauss: Burleske für Klavier und Orchester d-Moll
Modest Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung

02.01.2009, Metropolitan Opera

Jules Massenet: Thais

04.01.2009



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