Das Leben als Antwort

Der Film „Slumdog Millionaire“ zeigt Indiens Pracht und Elend

Das Konzept der Spielshow „Wer wird Millionär?“ hat sich international durchgesetzt und feiert auch in Indien gewaltige Quotenerfolge. In Danny Boyles jüngstem Film Slumdog Millionär bildet das Fernsehspektakel die Rahmenhandlung für die durch alle Genres wildernde Inszenierung einer Lebens- und Liebesgeschichte im Bombay resp. Mumbai der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit. Jamal (Dev Patel) ist der Kandidat und obwohl er nur in einem Callcenter den Tee serviert, weiß er auf fast jede Frage eine Antwort. In Rückblenden wird rekonstruiert, wie ein Junge ohne Schulbildung all diese Antworten kennen kann, womit bereits die größte Schwäche des Films genannt ist: die beinahe schon aufdringliche Konstruiertheit der Dramaturgie. Wenn man sich von dieser märchenhaften Erzählebene nicht zu sehr irritieren lässt, eröffnet sich ein facettenreiches Panorama der aktuellen Probleme des sich rasant entwickelnden Indien, erzählt aus der Außenseiterperspektive eines Jungen aus den Slums.

Früh verwaist schlägt sich Jamal (als Kind: Ayush Mahesh Khedeker) gemeinsam mit seinem älteren Bruder Salim (als Kind: Azharuddin Mohammed Ismail) durch: Als Müllsammler, als Bettler, Ausreißer und Kleinkrimineller und lernt dabei Latika (als Kind: Rubina Ali) kennen, von der er immer wieder getrennt wird, die aber nichtsdestotrotz zu der wichtigsten Person seines Lebens wird. Als Fremdenführer zeigt er Touristen das prächtige, aber nie vollendete Fünfsternehotel „Taj Mahal“ mit dem Tiptop-Swimmingpool und berichtet vom tragischen Tod der Mumtaz Mahal bei einem Autounfall im Kindbett. Immer wieder werden er und sein Bruder verraten, verfolgt und verprügelt und entwickeln sich immer weiter auseinander, bis sich ihre Wege trennen. Mit seinem Bruder in unversöhnlichem Zwist, versucht er Latika wiederzufinden und zwar, und damit schließt sich der Kreis, durch die Show „Wer wird Millionär?“. Allerdings ist er dort so erfolgreich, dass man argwöhnt, er könnte betrügen und statt Latika zu finden, landet er vorerst im Gefängnis. Denn wie könnte jemand wie er, ein Slumdog eben, all diese Fragen beantworten, ohne zu schummeln, wenn er doch bereits bei der zweiten und so selbstverständlich einfachen Frage den ersten Joker brauchte? Der Film findet mit seiner Struktur die Antwort und verhandelt gleichzeitig subtil im Hintergrund die Fragen nach den Hierarchien des Wissens und dem Dünkel der Etablierten. Und als ob das nicht alles schon für einen gut durchdachten Film ausreichen würde, wird das ganze Spektakel durch einen kraftvollen Soundtrack (Allah Rakha Rahman) erweitert und vorangetrieben.

Mit einer ebenso überwältigenden Detailverliebtheit wird das Leben des Jamal ins Bild gesetzt. Dabei wechseln sich Komik und Tragik ab, vermischt sich eine Geschichte vom Aufwachsen mit Gangsterfilm und Romanze, werden die Schönheiten und die Faszination Indiens ebenso eingefangen wie die Probleme und das Elend. Gerade bei dieser Vermischung von scheinbar Unvereinbarem hält man es für unmöglich, ein passables Resultat erwarten zu können, doch Boyle und seinem Team ist mit dem Slumdog Millionär diese Unglaublichkeit gelungen. Wie in einem farbenprächtigen Panorama werden die Themen Armut, religiös motivierte Gewalt, Menschenhandel und das verstörend mitleidlose und oft brutale Nebeneinander in Indien vor dem Kinopublikum entfaltet: Lang genug, um zu problematisieren, jedoch ohne die Themen auszuschlachten. Vielmehr werden zahlreiche Szenen, die an sich bedrückend sind, durch einen überzeugenden und niemals unpassenden Optimismus und Humor konterkariert.

Darin besteht der wohl größte Kunstgriff des Films: Dass es gelingt, unterhaltsam und komisch zu sein, ohne zu verflachen oder zu entschärfen. Es ist in diesem Sinne kein Spagat zwischen einem opulent-hohlen Bollywood-Durchschnitt und einer deprimierenden Elends-Doku, sondern ein atmosphärisch dichtes und hochgradig originelles Genre-Mix, der unbedingt sehenswert ist.

Slumdog Millionaire

Regie: Danny Boyle
Mit: Dev Patel, Anil Kapoor, Irrfan Khan, Madhur Mittal, Freida Pinto
USA / GB 2008
Verleih: Prokino

Kinostart: 19. März 2009

www.slumdog-millionaer.de

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.