Nachtstück

Werner Schroeter inszeniert „Don Giovanni“ an der Oper Leipzig

Als die „Oper aller Opern“ hat E.T.A. Hoffmann Mozarts Don Giovanni bezeichnet. Dass der „Gespensterhoffmann“ dabei vor allem die düster-romantische Nacht- und Schattenseite dieses zwischen Eros und Tod, zwischen Komödie und Tragödie merkwürdig oszillierenden Kunstwerkes vor Augen hatte, liegt nahe. Es ist ein für die Romantik typisches Urteil. Kann Don Giovanni auch für uns mental und ökonomisch krisengeschüttelte Erdenbewohner des technisch-digitalen Zeitalters, die wir nicht wissen können, ob wir morgen noch Menschen oder schon „virtuell“ geworden sind, noch die „Oper aller Opern“ sein? Denkbar wäre immerhin, sich vorzustellen, wie der amerikanische Präsident Obama als steinerner Gast der Hölle entsteigt, um Don Giovanni in Gestalt eines hedonistischen Bankmanagers das eiskalte Händchen entgegenzustrecken und die entscheidende Frage zu stellen: „Bereust du?“ Don Giovanni bereut (zumindest bei Mozart/da Ponte) bekanntlich nicht. – Aber das taugt zugegebenermaßen höchstens für eine Karikatur.

Passend zu den Befindlichkeiten im Jahr 2009 war es – fast möchte man sagen, wie könnte es anders sein – ein Medienmann, der Filmemacher und Regisseur Werner Schroeter, der die großen Rätsel, die uns Don Giovanni als ein Stück viel rezipierter „Weltliteratur“ aufgibt, für das Leipziger Opernpublikum veranschaulichen sollte. Es ist sicher kein Vergnügen, sondern eine ernsthafte Herausforderung, diese Oper geistvoll zu inszenieren. Denn hier wird ein halsbrecherischer Drahtseilakt zwischen Ernst und Komik mitten in einem komplexen Gefilde psychologischer Motivationen und Mystifikationen mit der musikalisch-akrobatischen, scheinbar spielerischen Leichtigkeit Mozarts vollführt. Diese Hochseilkunst tanzt und hüpft bewusst am Abgrund des Wahnsinns. In der Maske einer sorglos-tändelnden Rokokolebewelt heiterer Unbekümmertheit zeigt sie sich verschlagen, lebenszugewandt, schneidet sie Fratzen und versucht, dem Schicksal merkwürdige Schnippchen zu schlagen. Doch die düstere Nacht ist allgegenwärtig. Sie ist in feinsinniger Kalkulation miteinberechnet als Teil des Ganzen, der alles kontrastreich erschüttert und ohne den die rätselhafte Rechnung nicht ohne Bruch aufgehen würde.

Don Giovanni als Prototyp des säkularisierten, verantwortungslosen, egomanischen Individualisten, der sich nimmt, was er bekommen kann? Oder Don Giovanni als faustischer Wahrheitssucher, erotomanisch lebenshungrig auf „mille e tre“ Frauen? Don Giovanni als Künstler auf der Suche nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“, der dabei – ohne es zu wollen – in fatalistischer Verstrickung ein Unglück nach dem anderen anrichtet? Alle diese Facetten klingen in Werner Schroeters Interpretation an – und wiederum nicht. Schroeter verlegte die Szene (Bühne & Kostüm: Alberte Barsacq) in eine großflächige, fast geschlossene Bühnenkonstruktion, deren geschwungene Linien Elemente der Jugendstilarchitektur erkennen lassen. Ein perspektivisch interessanter Gang bildet die einzige Öffnung. Wie in den Rokokosalons sind jedoch auch verborgene Türen in die Wände eingelassen. Auf diese Wände sind überdimensionale Blumengewinde aus der Familie Richardia africana gemalt, in schwungvoll ausladenden Formen, die ebenfalls deutlich an den Jugendstil erinnern. Teils Treibhaus für Nachtschattengewächse, teils Szenerie für den Sommernachtstraum, teils pastorales Idyll für den Gott Pan, hat sich der Regisseur für eine elfenhaft verspielte Interpretation entschlossen. Wie in Sibylle von Olfers oder Ernst Kreidolfs Kinderbüchern schwirren – quirlig und irrlichternd – zwergenhafte Kinder durch die Szene, die ansonsten passend zur Vorlage ziemlich dunkel bleibt, lediglich fortwährend mit schwachem Kerzenschimmer ausgeleuchtet ist. Mit Kerzenleuchtern, die als Leitmotiv fast jedem Handlungsträger in die Hand gedrückt werden, wird nicht gespart. Die Inszenierung hat sie offenbar so nötig wie Helmut Schmidt seine Zigaretten. Beleuchtungstechnisch werden indessen so ziemlich alle Varianten aufgefahren, um die Szene in neuem Licht erscheinen zu lassen. A propos aufgefahren. Ein schwarzes Loch mit einem weißgetünchten Sicherheitskreis zur Warnung vor herabstürzenden Sängern dient als multifunktionaler Lift, mit dem die Protagonisten mit einer Lust spazierenfahren, die dem Heiland zur Ehre gereichen würde. Damit sie es beim Singen im Auf und Ab bequemer haben, gibt es die Stühle zum Platznehmen gleich passend dazu. Da sind wir auch schon bei der entscheidenden Frage: Wie lässt man den steinernen Gast auftreten, den Komtur, den wie jener Geist aus Hamlet ruhelos umherirrenden Vater der Donna Anna, den Don Giovanni im Eifer des Gefechts erstochen hat? Nichts leichter als das: Schroeter nimmt das Schwarze Loch als Deckel, lässt ein kleines schwarzes Loch darin offen, steckt den Kopf des Komturs drauf, setzt einen Grabstein dahinter mit der komischen Aufschrift „Papa 1787 – 2009“, hüllt das Ganze in Theaternebel, etwas geheimnisvolles Scheinwerferlicht dazu – und fertig ist die Schauerszene. Schön ist es zu hören, wie der Höllenchor von oben kommt, aus den Saal-Logen nämlich. Und Don Giovanni verschwindet bei Schroeter auch nicht im Sündenpfuhl, sondern durch die Tür im Zuschauersaal geht es für ihn ab in die Hölle der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Gute Arbeit hat Schroeter mit der Körpersprache geleistet, die er gesten- und einfallsreich zu inszenieren versteht. Aber die große Bühne steht ihm dabei im Weg. Da nur die Beleuchtung wechselt und Schroeter eine Art des Reduktionismus betreibt, der anders als etwa Konwitschnys Aida-Interpretation keine interessante und zwangsläufige Entwicklung veranschaulicht, sehen die Zuschauer über weite Strecken in ein stummes finsteres großes Loch, auf dem trotz raffinierter Bewegungseinlagen im Prinzip wenig geschieht und sind dabei so ratlos wie die Sänger, die nach Don Giovannis Verschwinden in das schwarze Loch im Bühnenboden blicken: Gähnende Leere klafft ihnen entgegen. Die faden Kostüme, bevorzugt in Rot, Schwarz und Weiß gehalten, sind dabei auch nicht gerade ein Augenschmaus, die einen auf andere Gedanken bringen könnten. Überhaupt wird viel gegähnt im Publikum und manche ungeduldigen Blicke auf die Armbanduhren sprechen für sich. Dass die Interpretation höflich akklamiert wird, ist sicher eher dem erfreuten Aufatmen des Publikums geschuldet, diesmal einem Skandal meilenweit entkommen zu sein, obwohl die Langeweile, die Schröter verbreitet, auf ihre Art auch skandalös ist.

Musikalisch glänzen vor allem Tiberius Simu als leidenschaftlicher Don Ottavio und Susanna Andersson nach anfänglicher Tendenz zum Tremolieren mit schöner Stimmführung unter den Solisten. Tuomas Pursio singt und spielt einen munteren, aufgeweckten und bewegungsfreudigen Leporello, der seiner Sache in jeder Hinsicht völlig gerecht wird. Jean Broekhuizens Donna Elvira ist mit Eleganz und Geschmack ausgesungen. Dass Elaine Alvarez ihre Donna Elvira nur szenisch verkörpern konnte, ist einer starken Grippe geschuldet, die sie am Singen hinderte. Um so mehr verdient ihre Bereitschaft Anerkennung, eine solche Strapaze mitten in einer Krankheit auf sich zu nehmen. Malin Byström rettete Donna Annas Stimme, indem sie von der Seitenbühne singend einsprang und in jedem Fall mehr als ein notdürftiger Ersatz war: Schöne Linien, gute ausgearbeitete dramatische Bewegungen in der Stimme nahmen für sie ein. Ungewöhnlich ist die Interpretation von Konstantin Gorny als Don Giovanni. Die Eigenschaften eines Edelmannes fehlen in dieser Darstellung der Figur völlig. Weder Anstand noch Vornehmheit, weder Verführungskunst noch Weltgewandtheit sind zu spüren. Dieser Don Giovanni wirkt eher profan.
Sébastien Rouland führte die Fäden geschickt zusammen und ließ sich ebenso wie die Solisten nicht davon irritieren, dass Körper und Stimme der Donna Anna zwei Wege gingen, einen akustischen und einen visuellen. Sang- und bewegungsfreudig auch diesmal wieder der Chor. Im Gewandhausorchester herrschte schwungvoller, solider Mozartton vor, in den Violinpassagen etwas musikalisch-historisch trocken, aber ein silbrig glänzender, vorwärtsdrängender und quicklebendiger Mozart entstand, der in den grazil-verspielten Passagen ebenso überzeugen konnte wie in dem üppigen und versteckt doppeldeutigen Finale – und natürlich beim hochdramatischen Auftritt des Komturs (Hidekazu Tsumaya), eine Szene, die nach wie vor nichts an ihrer fulminanten und furiosen Wirkungskraft eingebüßt hat und auch an diesem Premierenabend die Zuhörer wieder mit ihrer dramatischen Wucht gefangen nahm. An dieser Stelle kann man auch heute noch in die Versuchung geraten, von einer „Oper aller Opern“ zu sprechen.

Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni
Musikalische Leitung: Sébastien Rouland
Inszenierung: Werner Schroeter
Bühne, Kostüme: Alberte Barsac
Mit: Konstantin Alvarez, Elaine Alvarez, Tiberius Simu,
Hildekazu Tsumaya, Jean Broekhuizen, Tuomas Pursio,
Susanna Andersson, Roman Astakhov u.a.
Gewandhausorchester, Chor der Oper Leipzig
31. Januar 2009, Oper Leipzig

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