„Kultur nur als das Schöne zu betrachten, kommt mir nicht zeitgemäß vor“: Ein Gespräch mit Jens Kassner

Der Leipziger Autor und Kulturmanager Jens Kassner hat die Benennung Michael Fabers zum neuen Kulturbürgermeister zum Anlass genommen, einige Thesen zur Kulturpolitik Leipzigs aufzustellen. Ein Gespräch

Der Leipziger Autor und Kulturmanager Jens Kassner hat die Benennung Michael Fabers zum neuen Kulturbürgermeister zum Anlass genommen, in seinem Blog einige Thesen zur Kulturpolitik Leipzigs aufzustellen. Diese finden Sie hier. Während vielen davon zuzustimmen ist, stoßen manche Punkte und Begründungen etwas auf, weil sie sich im Fahrwasser einer so genannten „Kulturökonomie“ bewegen oder zu bewegen scheinen. Grund genug zum Nachhaken also.

Leipzig-Almanach: Vorweg, ich teile vollständig Ihr Plädoyer für eine möglichst breite Kulturförderung wie auch die Stärkung der Freien Szene. Und ich teile Ihr Unbehagen am Benennungsvorgang des neuen Kulturbürgermeisters und den Wunsch nach mehr Mitsprache. Welche Wirkungsmacht diesem Amt innewohnt, hat Georg Girardet ja eindrucksvoll bewiesen. Vielleicht bin ich nur durch das Vokabular verwirrt, aber was muss ich mir unter einem „freien Wettbewerb der Ideen“ vorstellen, über den eine Neubesetzung in Ihren Augen gestaltet werden sollte?

Jens Kassner: Es ist durchaus üblich, dass Stadtratsfraktionen untereinander aushandeln, welche Partei das Vorschlagsrecht für neu zu besetzende Dezernentenstellen bekommt. Das kann man gut finden oder auch nicht. Für wirklich bedenklich halte ich es aber, dass selbst die Partei, die nun gerade am Zuge ist, sich von vornherein auf eine Person festlegt, statt so etwas wie ein internes Auswahlverfahren durchzuführen. Bei den Aufgabenfeldern eines Kämmerers oder Ordnungsbürgermeisters mögen Fachwissen und gute Referenzen für die Ernennung ausreichen. Beim höchsten Kulturlenker der Stadt würde ich mir aber vor der Auswahl eine Vorlage von Konzepten wünschen. Betrachtet man sich Girardets berufliche Laufbahn, klingt das ja alles sehr schön, was er vorher gemacht hat. Als Kulturdezernent in Leipzig hat er aber, abgesehen von unglücklichen Einzelentscheidungen, auch insgesamt eine Linie gefahren, die der Stadt nicht unbedingt Vorteile eingebracht hat. Woher weiß man bei der Neuwahl, dass der Nachfolger oder die Nachfolgerin das anders angehen werden, wenn man sie nicht nach Konzepten befragt?

Leipzig-Almanach: Sie schreiben, dass Kultur ein „Lebensmittel“ sei. Und haben damit völlig Recht. Doch dann heben Sie zu einer Argumentation über Standortvorteile und positiven Stadtimageeffekten durch die Kultur an, die nicht notwendig ist. Es braucht hier keine Surplus-Begründung. Eine Stadt, in der wie in Leipzig angeblich eine „Kreativwirtschaft“, was auch immer das genau sein soll, ansässig ist bedarf der Kultur genauso – aber nicht mehr – wie eine Stadt, die von der Stahlindustrie lebt. Wozu also das quasi-ökonomische Argument?

Kassner: Für Sie und viele andere, die eine enge Beziehung zur Kulturszene haben, mag das Argument des Lebensmittels völlig ausreichend sein. In der Kommunalpolitik muss man allerdings auch Leute überzeugen, die in der Kultur eher das Sahnehäubchen obendrauf erblicken, auf das man in harten Zeiten eben mal verzichten sollte. Was Kreativwirtschaft ist, wird unter anderem im Abschlussbericht der Enquetekommission Kultur des Deutschen Bundestages sehr ausführlich dargestellt. Die Grenzen mögen diffus sein, doch Kultur ist de facto schon lange auch ein Wirtschaftszweig. Für viele der Akteure allerdings einer, bei dem das Einkommen kaum über der Armutsgrenze liegt. Laut Angaben der Künstlersozialkasse haben die dort Versicherten ein durchschnittliches Bruttoeinkommen von etwa 11.000 Euro pro Jahr. Und es sind in Deutschland mehr Leute hauptberuflich in der Kultur als in der Landwirtschaft beschäftigt. Um bei der Metapher des Lebensmittels zu bleiben: Für uns als Konsumenten sollen Brot, Wurst, Milch und Bier möglichst billig sein. Für die Bauern reicht die Gewinnspanne damit kaum zum Überleben. Sie können aber immerhin streiken, wie es im vorigen Jahr tatsächlich passierte. Einen Kulturstreik hat es in Leipzig mit dem Weißen Januar 2002 zwar auch schon gegeben, doch er hat den Streikenden selbst wohl am meisten wehgetan.

Die Kommune muss die Kultur als wichtigen Wirtschaftszweig betrachten und die darin Tätigen auch bei deren Existenzsicherung unterstützen, vor allem auch die Akteure der Freien Szene. Der Begriff „frei“ beinhaltet nämlich die Gefahr, frei von Einkommen zu sein.

Die Vorbehalte gegenüber dem Argument eines ökonomischen Standortvorteils kann ich nicht ganz nachvollziehen. Die herrschende Gesellschaftsordnung beruht auf dem Wettbewerb. Sich da partiell herausnehmen zu wollen, klappt nicht. Und im Endeffekt sind es doch die Bewohner, die den Nutzen höherer Steuereinnahmen haben, nicht nur die Rathausspitze. Die Kultur dabei nur als das Schöne zu betrachten, nicht auch als das Nutzbringende, kommt mir nicht zeitgemäß vor.

Leipzig-Almanach: Was für einen Kulturbegriff legen Sie zugrunde, wenn diese zur „Wirtschaftsförderung“ beitragen soll? Hat Kultur nicht immer auch etwas höchst Widerspenstiges an sich?

Kassner: Eigentlich finde ich den sehr weit gefassten Kulturbegriff der UNESCO ziemlich sexy. Doch in der knallharten Politik, wo es immer um Geld geht, ist er dann doch zu schwammig. Zwangsläufig muss man somit die traditionellen Sparten betrachten. Aber eben auch die Medienbranche, sofern da Kreativität eine tragende Rolle spielt. Sowie das Produkt- und Grafikdesign. Die Angewandte Kunst hat (nicht nur in Leipzig) keine starke Lobby. Da ist freiwilliges Entgegenkommen der Politik nötig und auch gewinnbringend. Hier geht es nun tatsächlich um ökonomische Wettbewerbsvorteile. Wenn Produkte von ihren Parametern her weltweit immer ähnlicher werden, ist gute Gestaltung das ausschlaggebende Surplus.

Das Widerspenstige ist ein wichtiges Merkmal der Kultur (im engeren Sinne). Das muss aber nicht zwangsläufig ein Widerspruch zum Nutzeffekt sein. Widersprüche sind Triebkräfte der Entwicklung, wie schon Hegel erkannt hat. Aber nur, wenn man sie nicht unbedingt „lösen“ will, sondern ihnen Fläche zur Reibung gibt. Das hört sich nun sehr abstrakt an, aber darin sehe ich tatsächlich eine Hauptaufgabe der Kulturpolitik. Vielleicht erklärt es ein Beispiel aus den angewandten Bereichen am besten. Die Gestaltung der „Ente“ von Citroën war bei der Markteinführung eine echte Provokation. Darum und zugleich wegen der sehr flexiblen Benutzerfreundlichkeit wurde sie zum Erfolgsmodell. Dafür mussten die Entscheider aber zunächst viel Mut und Stehvermögen haben. Solche Enten, die rotzfrech und trotzdem funktional sind, brauchen wir in allen Kultursparten in großer Zahl. Widerspenstigkeit allein reicht nicht, das Ding muss auch brauchbar sein.

Außerdem bin ich für einen Paradigmenwechsel bei der offiziellen Handhabung des Kulturbegriffs. In Diskussionsrunden hört man von Verantwortlichen immer wieder, dass heute auch HipHop, Poetry Slam oder Street Art als Ausdrucksformen anerkannt werden müssten, die gleichberechtigt neben den überkommenen Ästhetiken stehen. In der täglichen Praxis sieht es aber dann ganz anders aus. Da ist ein Umdenken nötig, das tief unter die Oberfläche der Sonntagsreden dringt.

Leipzig-Almanach: Die Freie Szene trägt Ihnen zufolge dazu bei, dass junge Leute in Leipzig ihren Wohnort finden. Ist die Stadt wirklich so alt, dass man sie einer Frischzellenkur unterziehen muss?

Kassner: Zum Glück nicht (mehr). Als meine Frau und ich vor drei Jahren von Chemnitz nach Leipzig gezogen sind, haben wir mit unseren damals 44 Jahren (jeder, nicht zusammen!) zwar nicht gerade zur Senkung des Altersdurchschnitts beigetragen, aber tatsächlich zum Wiederüberschreiten der Halbmillionengrenze. Heute sind es wohl schon 15 Tausend Einwohner mehr – vor allem durch Zuzug. Da es zumeist Zuwanderer sind, die deutlich weniger Lebensjahre als wir haben, kann man sogar hoffen, dass es bald auch bei der Geburtenrate eine Trendwende gibt.

Das Gegenbeispiel erlebe ich aber Woche für Woche, wenn ich für zwei Tage nach Chemnitz zur Arbeit bei einem Dachverband von Vereinen fahre. Die Stadt hat bei den harten Standortfaktoren einige bessere Bewertungen als Leipzig. Manche Wirtschaftszweige suchen da sogar schon nach Fachkräften. Dennoch verlassen junge Absolventen der TU lieber die Stadt, weil etwas fehlt – die Atmosphäre. Dabei sind Kunstsammlungen, Theater, Oper und andere Einrichtungen der so genannten Hochkultur auf einem bemerkenswerten Niveau. Das reicht aber nicht. Es fehlt eben das bunte, quirlige Leben an der Basis. Und das hat Leipzig zum Glück. Diese Tendenzen müssen aber nicht unumkehrbar sein. Es geht also mehr um eine Sicherung des Trends als um eine heftige Frischzellenkur, so wie Chemnitz sie dringend nötig hätte.

Leipzig-Almanach: Sie schreiben: „Die kulturelle Bildung aller Altersgruppen und Bevölkerungsschichten bedarf einer Forcierung.“ Nun, Bildung kann immer nur ein Angebot sein, weil der Begriff bereits den Aspekt der Freiwilligkeit beinhaltet. Forcieren aber – hier schwingen schließlich Aspekte von „Kraft“, „Macht“, „Gewalt“ mit – klingt nach Zwang und so, als ob eine kulturelle Bildung, die dann ja nur ein Kanon sein kann, den Individuen von außen aufgedrückt wird.

Kassner: Das Wort Forcierung ist hier tatsächlich nicht gerade glücklich gewählt. Es geht wirklich um eine Verbreiterung des Angebots. Allerdings kommen auch Zweifel auf, ob das blanke Anbieten schon reicht. Die Floskel „jemanden zum Glück zwingen“ ist schrecklich abgedroschen. Sieht man sich aber die Programme der Massenmedien an, nicht nur der privaten (das MDR-Fernsehen ist genauso grausam), wie sie auf das Denkvermögen und den Geschmack des Normalbürgers eindreschen, dann wäre sanfte Gegengewalt manchmal eine sinnvolle Option. Dank der Schulpflicht (auch eine Art von Gewaltanwendung) gibt es ja zumindest für diese Altersgruppe ein Instrument, das noch besser benutzt werden kann. Aber nicht im Sinne eines Kanons, die Bandbreite sollte so groß wie nur machbar sein.

Leipzig-Almanach: Als – vor Jahren – Zugezogener kann ich Ihre Proklamation des Leipziger Selbstverständnisses als „Offenheit für Neues und Unkonventionelles“ nicht abschließend bewerten. Der offizielle Fokus allerdings auf dem Image als Bachstadt und die anhaltende Vorsichtigkeit im Gewandhaus etwa gegenüber der Neuen Musik, scheinen dem aber zu widersprechen. Ist es vielleicht nicht eher so, dass sich in Leipzig den regierenden Strategien zum Trotz immer wieder Neues, Unangepasstes eine Nische sucht?

Kassner: Ja, genau. Diese Nische ist aber viel größer als in anderen Städten, die ich ein bisschen kenne, speziell Chemnitz und Dresden. Ich finde es faszinierend, wie sich trotz einer ziemlich konservativen Politik so viel Unangepasstes breit macht und auch ein interessiertes Publikum findet. Wenn man in geschichtlichen Darstellungen zur Stadt blättert, scheint aber gerade das hier verwurzelt zu sein.

In Chemnitz denkt die Stadtverwaltung laut darüber nach, ob man nicht ein Szeneviertel einrichten solle. Vor zwei Jahren freuten sich dann manche Politiker regelrecht, dass endlich mal ein paar Jugendliche ein Haus besetzten. In Dresden gibt es das Szeneviertel mit der Äußeren Neustadt schon lange. Es wirkt aber wie ein gallisches Dorf in diesem breiten Strom spätbürgerlicher Behäbigkeit, welcher die sächsische Hauptstadt überflutet. Räumliche Konzentrationen des Informellen existieren natürlich auch in Leipzig. Dennoch erscheint mir hier ein flächendeckendes unterschwelliges Geflecht des Andersseins zu existieren.

Die offizielle Verengung von Leipzig als Stadt der klassischen Musik ist ein Punkt, der mich am meisten an der bisherigen Kulturpolitik stört. Zweifellos sind Gewandhaus und Thomanerchor Institutionen von Weltgeltung. Das müssen sie auch bleiben. Doch es gibt so viel mehr, was Leipzig als Kulturstadt attraktiv macht. Selbst im Bereich der Musik. Sind etwa WGT und Pop Up keine überregionalen Anziehungspunkte? Und eben auch Kunst, Literatur, Bühne, Film, etc.

Leipzig-Almanach: Als kleine Besonderheit mag hier die Einsetzung von Sebastian Hartmann als Schauspiel-Intendanten gelten. Der „Volkszorn“, der bereits im Vorfeld aufkam, und die noch immer existierende Skepsis sprechen aber nicht für die uneingeschränkte Freude am Experiment. Sie wollen diesem immerhin noch etwas Zeit einräumen, „bevor eine kritische Prüfung über die Fortsetzung entscheidet.“ Wie ist das zu verstehen? Wer entscheidet über die künstlerische Autonomie eines Intendanten?Kassner: Es macht ganz den Eindruck, als sei der „Volkszorn“ bewusst geschürt worden von Leuten, die mit dem gesamten Programm nicht einverstanden sind. Meines Wissens ist die Auslastung des Centraltheaters höher als in den vorherigen Spielzeiten. In der Scala ist allerdings Bedarf für Veränderungen vorhanden.

Die Autonomie eines Intendanten ist unantastbar, solange er Intendant ist. Von dieser Aufgabe kann ihn aber eine Mehrheit des Stadtrates befreien. Oder wohl sogar der Kulturbürgermeister im Alleingang, wenn man sich den Fall Henri Maier am Opernhaus ansieht. Ich bin nun dafür, das interessante Experiment Hartmanns zumindest für die offizielle Laufzeit des Vertrages fortzusetzen. Theater, auch kommunales, sollte heute direkt gesellschaftliche Vorgänge aufgreifen und nicht allein der Erbauung dienen. Ob Hartmanns Mittel dafür wirklich ideal sind, kann man, meine ich, jetzt noch nicht umfassend beurteilen.

Leipzig-Almanach: Wenn „sogar das Halten des englischen Aktionskünstlers Jim Whiting mit seinem Projekt Bimbotown“ „ein Aspekt der Standortpflege“ sein kann, welche Kulturen würden dieser in ihren Augen schaden?

Kassner: Welche Kulturen schaden könnten, weiß ich nicht genau. Irgendwelche No-go-Areas für Ausländer und Unangepasste zweifellos. Das Wörtchen „sogar“ bezieht sich hier nur auf die Vermutung, dass so ein „Partyschuppen“ wie das Bimbotown für viele konservative Politiker wahrscheinlich nicht zur Kultur gehört. Ich möchte nun auch nicht automatisch jede Disco oder jeden Nachtclub für unverzichtbar erklären. Aber ein breites Angebot an Unterhaltung gehört eben doch zum Flair einer Großstadt. Und das Bimbotown war wesentlich mehr als nur simple Unterhaltung – vielmehr ein Gesamtkunstwerk. Es wäre ein Verlust für die Stadt, wenn Whiting endgültig weggeht. Bei der Suche nach einem neuen Standort könnte die Kommune tatsächlich im eigenen Interesse behilflich sein.

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