Wir alle für immer zusammen???

Erwachsenen den Spiegel vorhalten

„Schlage nie ein Kind im Ausland, es könnte dein eigenes sein.“ Der Wahrheitsgehalt dieses Spruches hat sich mittlerweile auch auf das Inland ausgedehnt. Wir leben im Zeitalter der Patchworkfamilien, also im Zeitalter von Familienstrukturen, die wie ein Flickenteppich konstruiert sind. Wer Vater und Mutter sind, ist für viele Kinder nicht mehr so einfach zu sagen oder es wird zu einer komplizierten Rechenaufgabe: „Als mein Vater meine Mutter geheiratet hat, hatte er schon zwei Kinder, Dirk und Elke, meine größeren Geschwister also, aber als ich drei war, haben sich meine Eltern scheiden lassen. Jetzt wohnt mein Vater bei Sina mit Dirk und Elke. Und mit Fieke und Gijs, Sinas Kindern. Und zusammen haben sie Hilletje, die ist jetzt fünf Monate. Hilletje ist also meine kleine Halbschwester, aber Fieke und Gijs sind nicht meine Halbgeschwister. Die sind ja von Sina und einem anderen Mann. Klar, oder?“ Das erzählt Polleke, die zwölfjährige Protagonistin des Stückes, ihrer Freundin Caro.

Wenig später begegnet sie daheim im Flur ihrem Lehrer im knallrot gestreiften Schlafanzug und es dämmert ihr allmählich, dass derselbe möglicherweise doch nicht immer im Gästezimmer schläft. Dass ausgerechnet Pollekes Lehrer – ein Gedanke, mit dem sich Polleke nur schwer anfreunden kann – die alten Familienstrukturen wiederherstellen soll, indem er Pollekes Mutter heiratet, bleibt eine Utopie. Nicht dass er vor dieser Aufgabe – ein moderner Lehrer darf heutzutage vor nichts zurückschrecken, um das Wohl seiner Schützlinge zu sichern – kapitulieren würde, nein, Pollekes Mutter vereitelt alle Pläne, als sie „die Trantute“ irgendwann wieder rausschmeißt. Da auch Pollekes Vater, ein Totalversager, dem Mädchen keinen Halt geben kann (er bettelt die eigene Tochter um Geld an), bleiben Polleke letztendlich nur noch die Gedichte, die sie schreibt und eine Kuh mit ihrem Kälbchen bei den Großeltern. Dort gibt es noch so etwas wie Normalität und Beständigkeit, dort findet sie seelisch ein wenig Ruhe. Und es gibt natürlich noch die große Liebe: Mimun. Ein marokkanischer Junge, der aufgrund der islamischen Tradition nicht mit Polleke gehen darf und von zu Hause fliehen muss, um mit ihr zusammen zu sein. Insofern ist das Happy End, das Polleke in folgende Verse kleidet, trügerisch: „Alles ist gut so, wie es ist: / Ein Fisch gehört ins Wasser / ein Vogel in die Luft / eine Hand in meine / – seine.“

Mit dem Stück Wir alle für immer zusammen nach dem gleichnamigen Roman von Guus Kuijer beschreibt das Theater der Jungen Welt, wie in der heutigen Zeit den Kindern jeder Halt genommen und durch das kindische Verhalten der Erwachsenen auch die Kindheit gestohlen wird. Denn Polleke wird gezwungen, den Halt in sich selbst zu finden und das gelingt ihr auch – unter anderem dadurch, dass sie Gedichte schreibt. Das alles ist bewundernswert, aber nicht unbedingt gerade Aufgabe eines Kindes. Schon gar nicht, wenn sich die Erwachsenen an diesem Halt noch aufrichten, wie Pollekes Vater etwa. So wird durch Buch und Stück – wenngleich mit einigen Übertreibungen – im Grunde genommen den Erwachsenen ein Spiegel vorgehalten. Kinder, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, bekommen von der rundum überzeugenden Anke Stoppa als Polleke, der die große Kunst gelingt, mit vollendeter Leichtigkeit und ohne Anflug von Sentimentalität Tragik und Komik zu vereinen, so etwas wie ein mentales Überlebenstraining vorgeführt. So muss man – im etwas anderen Wortsinn als bei den Fernsehprogrammen – das Stück, dessen Regie mit minimalen Mitteln maximale Wirkung erzielt, als ein Kunstereignis für die ganze Familie dringend empfehlen. Den Eltern sogar mehr noch als den Kindern…

Wir alle für immer zusammen
Theaterstück nach dem Roman von Guus Kuijer
Mit: Susanne Krämer, Sven Reese, Anke Stoppa
Regie: Stephan Beer
Premiere: 5. März 2009, Theater der Jungen Welt

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