Trubel ums Jubeljahr

Albrecht von Lucke erklärt in „68 oder neues Biedermeier“ warum der Kampf um die Deutungshoheit der historischen Zäsur nicht abebbt

68 war der Startschuss für ein riesiges kollektives Projekt: Weite Teile des sozialen und kulturellen Lebens wurden ideologisiert und neu kodiert, und zwar in einer durchweg intoleranten, teils subtilen, teils offen diktatorischen Form. Kern war die langfristige Dekonstruktion der deutschen Identität. … Die Spuren sind heute überall zu besichtigen, in Schule und Rechtsprechung, in der Politik, in der Sprachkultur oder in der Ausländerdebatte.
Uwe Hinrichs, Leipzig, in einem Leserbrief, SPIEGEL 45, 2007

In der katholischen Kirche dienen Jubeljahre jedes Vierteljahrhundert dazu, sich der inneren Erneuerung der Gläubigen zu versichern. Den gleichen Zweck haben die großen politischen Jubiläen, vor denen man sich derzeit gar nicht retten kann. Diese Jahrestage werden dann gern zum Anlass genommen, um eine aufgeregte öffentliche Debatte vom Zaun zu brechen. Angeblich soll in solchem Ringen um die Diskurshoheit das jeweils andere Weltbild als Mythos entlarvt und das Geschichtsbild „korrigiert“ werden – und dabei wird fleißig die je eigene mythologische Welt-Anschauung gepflegt. Ein Jubiläum, das für eine fast manichäische Für-und-Wider-Diskussion steht, durften wir im vergangen Jahr erleben. Es galt, die Heilige Kuh 68 zur Schlachtbank zu führen oder das Goldene Kalb 68 zu preisen. Je nach ideologischem Gusto.

Warum diese Zahl wie keine andere für erzürnten Diskussionsstoff sorgt, skizziert Albrecht von Lucke in seinem Bändchen 68 oder neues Biedermeier. Dabei geht es ihm Gottlob nicht um das Aufzählen der historischen Fakten. Von diesen ist ja überall zu lesen. Von Lucke zeichnet vielmehr die Wirkung(en), sowohl direkten wie Nachbeben, der Zäsur 68 nach. Dabei zeigt sich, dass es im Kern um zwei verschiedene Verständnisse des Staatsbürgers und damit Gesellschaft respektive Gemeinschaft geht: Bourgeois oder Citoyen, also Besitzbürger oder politischer Mensch.

Der Clou an 68 ist, dass der Begriff für eine ganze Generation steht, die mit den Merkmalen einer (radikalen) Minderheit ausstaffiert worden ist. Der politische Konflikt jener Zeit, der 1967 in den Protesten gegen den Schahbesuch in Berlin seine erste spürbare Wirkung hatte, gerierte sich erst später zum Generationskonflikt. Die Erfindung der 68er-Generation folgte dem Eindruck des Solidaritätszwangs mit der RAF. Als erstes taucht er, so von Lucke, 1978 in der taz auf: Hier wird die Linke als ganze Generation definiert und die Zahl zur emphatischen Selbstbezeichnung verwendet. Da wahren die fetten Jahre von 68 aber offensichtlich schon vorbei. Viele älter Gewordene zogen sich nach der enttäuschten Aufbruchserfahrung ins Private zurück, aber hingen dem guten Gewissen nach, damals auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Es folgte der Marsch durch die Institutionen, der mit der Regierungsbildung von Rot-Grün 1998 seinen Höhepunkt erreichte. Nun, da die Post-68er an Hebeln der Macht sitzen, steht wieder heftig zur Debatte, was 68 eigentlich ist. Das zeigen die Sachbuch-Bestseller der vergangenen Jahre deutlich, von der nur Diekmanns Abrechnungsbuch Der große Selbst-Betrug genannt werden soll, die das in von Luckes Untertitel angekündigte neue Biedermeier in Stellung bringen. Claudia Pinl hat diesen Debattenzirkus um eine neue Bürgerlichkeit, die Rückkehr zu „alten“ Werten auseinander genommen, die nicht weniger als die Rehabilitierung der Fünfziger, des autoritären Staats, des Paternalismus und der unmündigen Bürger beinhaltet.

68 ist als Jubeljahr abgehakt. Für seine Genese wie die Analyse der Debatte stellt von Luckes schmales Bändchen eine hilfreiche Lektüre dar. Der Diskurs um die Grenzen und Möglichkeiten der Mitbestimmung wird jedenfalls weitergehen – und auch an Daten festgemacht. Schließlich sind wir bereits in einem weiteren Jubeljahr angekommen: 89. Damit dieses nicht auch ins Kreuzfeuer um Deutungshoheit gerät, hat man es sich gleich staatsmännisch angeeignet, will in Leipzig etwa mit einem Lichterfest an die angeblich völlig friedliche Revolution erinnern, wofür beim Testlauf im letzten Jahr ein historisch falsches Foto als Werbeträger herhalten durfte. Und so wird man nicht müde, zu erzählen wie und was die DDR-BürgerInnen alles auf sich nahmen, um endlich in blühenden Kapitalismuslandschaften anzukommen. Geschichte – aus der Rückschau erzählt – wirkt immer so schön einfach und in einer solchen Perspektive auch noch als Selbstvergewisserung der eigenen Machtposition. So wie sich das ganze bürgerliche Spektrum mit weißer Rose am Revers als aufrechte Scholl-Geschwister geriert, so geben sich seine VertreterInnen genauso allesamt als ehemalige DDR-DissidentInnen. Opportunismus nennt sich dieser Grundwert der Bürgerlichkeit. Was daran neu sein soll, erschließt sich nicht.
Heute hat man dagegen den Eindruck, dem Ende der utopischen Energien beizuwohnen. Nachdem 1989 nicht das beschworene „Ende der Geschichte“ in Demokratie und Freiheit bescherte, sondern globale Unübersichtlichkeit und fortschreitende ökologische und soziale Zerfallsprozesse, erscheinen die westlichen Gesellschaften zunehmend ratlos. Anstatt eine kritische Bestandsaufnahme des westlich-kapitalistischen Weges vorzunehmen, verharren sie in rasendem Stillstand und bloßer Affirmation des Bestehenden…Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht
Verlag Klaus Wagenbach – Berlin 2008
91 S. – 9,90 €
www.wagenbach.de

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