Strandgut

Ein persönlicher Flaneursbericht von der Leipziger Buchmesse 2009

Will man ein vielfältiges Ereignis in einen Bericht zusammenfassen oder wenigstens die spannendsten, schillerndsten und negativ herausragenden Dinge benennen, braucht es eine griffige Idee. In Ermangelung einer intellektuellen Perle greifen die AutorInnen auf den Zufall zurück. Da uns als erstes die hübsche Strandgut-Reihe aus dem Demmer Verlag – neu: Feuersteine, Hühnergötter – anlächelte, soll diese unser leitender Gedanke sein. Beginnen wir also unseren Sturz in den Mahlstrom.

Flaschenpost

Etliche Zeitungen waren wieder kostenlos oder im Probeabo zu haben, der Unvollständigkeit halber seien sie nicht aufgezählt. BILD hatte keinen solchen Stand, wollte keine neuen LeserInnen ködern, nur Adressen sammeln: Ein Auto stand herum, das angeblich zu gewinnen war. Die Preisgabe persönlicher Daten sicherte die Gewinnchance. Dass nun auch die „Meinungsmacher“ in einer derart ökonomischen Krise sind, dass sie auf plumpen Adressfang gehen müssen – wer hätte das gedacht? Weiter beim Qualitätsjournalismus: Was haben fünf, gemeinhin als Intellektuelle geltende Personen und Boris Becker gemeinsam? Nun, sie sind die Galionsfiguren der neuen ZEIT-Serie „Mein Deutschland“. Parallel dazu können sich die jungen BücherfreundInnen mit dem neuen Band von Was ist was? über Deutschland informieren.

Wellenrauschen

In der Hörbuchsektion war auch in diesem Jahr die ewige Wiederkehr des Gleichen zu erleben, immerhin wird über den Aspekt des Hörens die Anwesenheit von Radiosendern plausibel gemacht. Die meisten Verlage hatten keine bessere Idee, als Klassiker sowie mehr oder weniger bekannte Bücher von mehr oder weniger bekannten SprecherInnen vorlesen zu lassen. Nichts Neues also und vielleicht liest ja im nächsten Jahr ein Autor aus seinem Hörbuch vor? Ein bemerkenswertes Unterfangen sei noch erwähnt: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel soll es nun auf CD geben. Der Film, der jedes Jahr die Weihnachtszeit begleitet, nun als Hörbuch! Naja.

Das Audio-Medium nahmen einige Verlage immerhin ernst. Bei Lausch etwa erscheint eine sich streng an die Comicvorlage von Mike Mignolas haltende Hörspielversion von Hellboy. Und Titania Medien geht weiterhin den eigenen Weg, insbesondere klassische Gruselliteratur in akustisch aufwendig verpackte Hörspiele zu gießen. Und sie bleiben auch ihrer ungewöhnlichen Cover-Gestaltung treu: kitschig-romantische Schauergemälde in der Ästhetik von Groschenromanen, deren Quasirealismus den BetrachterInnen einen kalten Schauder über die Rücken jagt. Wissenschaft im O-Ton veröffentlicht Quartino: Zeitgeist und Eigensinn versammelt die stimulierendsten Gespräche und Vorträge aus 60 Jahren BR Nachtstudio.

Sushi und Sashimi

Klassische Comics waren kaum vertreten, dafür aber ganz viel Manga, die japanische Comicspielart. Und damit auch viele Kids, die sich nicht immer vorteilhaft in Kostümchen ihrer MangaheldInnen schnürten. Rebella ist eigentlich der Name einer Herbstapfelsorte, die besonders für den umweltschonenden Anbau geeignet ist. Neuerdings verbindet sich damit der Angriff auf das Taschengeld von Mädchen. Zur gleichnamigen Figur gibt es ein Buch rund um Liebe, Sex und Zärtlichkeit, vor allem aber Zubehör (Stifte, Schlüsselanhänger, Klamotten – die neue Kollektion ist eingetroffen!) und die Aufforderung sich Rebellas „Style“ anzunehmen.

Immerhin hielt das MOSAIK die Comic-Fahne hoch und präsentierte exklusiv das 400. Heft. Das war rasch ausverkauft, so dass sich alle zu kurz Gekommenen bis zum Monatsende gedulden müssen.

Lost Things

Vorweg: Wir sind froh, dass der Papa, der seinen Sohn in der Straßenbahn vergaß, – nach einer Ehrenrunde in der Linie 16 – den Sprössling wieder unter seine Fittiche nehmen konnte. Andere hatten offensichtlich den Verstand verloren. Damit sind nicht nur die paar (neo-)nazistischen Hanseln gemeint, die sich an ihren Ständen herumdrückten. Kostprobe aus der Edition Winterwork: „Mit diesem neuen Blick auf Atlantis bieten sich für viele weitere Rätsel der Menschheitsgeschichte überraschend logische Erklärungen an. Eine davon ist: Der wahre Christus lebte 10000 Jahre früher, besiegte Atlantis und das Christentum ist somit eine indirekte Folge des Atlantisuntergangs.“ Wenn das nicht neugierig auf das ganze Buch Der verborgene Schlüssel von Atlantis macht.

Untiefen

Vom Ebook, obwohl jahrelang erfolglos promoted, will die Branche nicht lassen. Welchen Sinn es haben soll, seine Bibliothek in der Hosentasche mit sich führen zu können, wurde aber nicht erhellt. Und dass ein einzelnes Buch in der Hosentasche immer noch und immer schon mobil und einfach zu bedienen ist und war, wurde natürlich nicht betont.

Viele Aussteller fischten offensichtlich im Trüben. Natürlich waren eine Menge EsoterikerInnen, diverse Gläubige etc. vertreten. So befanden sich Scientology e.V., Christliche Wissenschaft und die gleichnamige Organisation auf Schriftmission. Andere ließen bereits in ihrem Namen wissen: Jesus ist der Christus.

Hirnwäsche verspricht das Buch Verwandeln Sie Ihr Kind in 5 Tagen (Luqs-Verlag). Ebenfalls auf eher junges Publikum war das Bibelmobil ausgerichtet. In einem Zerrspiegel konnte man versuchen sein Selbst zu erkennen. Und dann durfte man noch lesen „Jesus war Vegetarier“. Man meinte, ein gegrummeltes „Na und, Hitler auch!“ vernommen zu haben.

Seichte Gewässer

Zweifelhafter Natur, aber wohl auf die Schmalspurausbildung namens Bachelor zugeschnitten, ist die neue Reihe Profile bei UTB. Auf jeweils rund 100 Seiten sollen so 38 Lehrsätze zu Nietzsches Philosophie gegeben oder mal im Abriss Foucaults Schriften analysiert werden. Zu Karl Marx sind dessen bedeutendste Aussagen zu lesen oder in Geschichtstheorien „wichtige Positionen aus 2500 Jahren historischen Denkens“.

Irritierend war, dass viele Verlage mal wieder nach AutorInnen suchten, zumal oft schnell ersichtlich wurde, dass dabei für die Schreibenden kein fairer Deal herausspringen würde. Ein Herr hatte sogar extra einen Stand gemietet, um sich von einem Verlag zu finden zu lassen. Mit der eingesparten Miete hätte er sein Buch gewiss im Selbstverlag herausbringen können.

Schatzinsel

So heißt nicht nur eine neue Kinderbuchsparte des Fischer-Verlags, es waren auch einige solche Orte zu finden. Klangmöbel luden zur Entspannung, schwangen mit der eingespielten Musik mit. Den Hörspielsommer – auch immer eine dieser Inseln – haben wir irgendwie übersehen. Außerdem sollen hier endlich mal die Bänke in Halle 1 gelobt werden, die mit ihrem schlichten formschönen Design eine ausnehmend bequeme Sitz- und Verschnauffläche zwischen Messe und Draußen bieten.

Unterm Pflaster liegt der Strand

Die gute alte wissenschaftlich-subversive Reihe aus dem Verlag Karin Kramer ist nur im modernen Antiquariat zu haben. Ob sich solch ein Projekt einer Zeitschrift für Kraut und Rüben heute wieder anstoßen ließe? Der Verlag Graswurzelrevolution hat jüngst einen Tagungsband zu Camus‘ Mensch in der Revolte herausgegeben, der Daphne-Verlag ergründet die Postmoderne Lesbenheit. In Die Bildung, die sie meinen … mündiger Mensch oder nützlicher Idiot (Pahl-Rugenstein Verlag) geht Paul Lederer dem Widerspruch zwischen politischem Bildungsfordern und Ausbildungsmeinen auf die Spur. Pünktlich zum Jubiläum der so genannten friedlichen Revolution beschäftigt sich Dietz Berlin mit dem kritischen Gebrauch der Erinnerung.

Seesterne

Prominenz – oder was dafür gehalten wird – konnten wir zum Glück weitestgehend umschiffen. Nur Sarah Kuttners Geplapper über FDP und so kreuzte unsere Bahn. Dieser Antisirene entkamen wir aber flugs. Das plötzliche Umzingeltsein von Muskeltypen mit Knopf im Ohr kündigte die Anwesenheit von Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Böhmer an, der zwischen Sitzungen und Debatten keine Mühen gescheut und uns ein Buch beschert hat.

Zum Schluss seien noch einige Bücher genannt, die uns gefielen und die wir gern in näheren Augenschein nehmen würden.Welche Farbe haben schottische Schafe (humboldt) stellt eine hübsche Ansammlung von Kuriositäten und unnützem Wissen dar. The Porn Identity (Verlag für moderne Kunst Nürnberg) beinhaltet künstlerische und theoretische Reflexionen in Wort und Bild zu dem Thema, das die gegenwärtige Alltagsästhetik bestimmt. In menschenleeren öffentlichen Räumen spürte der Fotograf Detlef Suske der Austauschbarkeit urbaner Gehäuse nach – Antiken der Zukunft (Mitteldeutscher Verlag) bildet seine Aufnahmen ab. Platons Werke, die ja wesentlich dialogischer Natur sind, sind bei Headroom als inszenierte Lesungen zu haben. In Trimmels letzter Fall (Pendragon) hetzt der Tatort-Kommissar einem Serienmörder und den Gespenstern seiner Vergangenheit hinterher. Quer durch die Geisteswissenschaften (Quer) gibt eine fächerübergreifende Bestandsaufnahme der Queer Theorie. Informativ scheint auch Hans Ebelings Was Denken heißt – eine Auseinandersetzung mit Heideggers ähnlich lautender Schrift. Mit pressplay 2 legt der mairisch-Verlag seine nunmehr zweite Hörspielanthologie vor. Die Biographie von Otze Ehrlich, Sänger der Punkcombo Schleimkeim, kann in Satan, kannst du mir noch mal verzeihen (Ventil) nachgelesen werden. Der 53. Brief (Perlenverlag) verbindet zwei Medien: Während auf der einen Ebene die Briefe des Kulturjounalisten Malik dessen Erleben dokumentieren, finden sich auf dem beigelegten USB-Stick Fotos und Tonbandaufzeichnungen, welche die Briefe ergänzen. Ein erfreuliches Multimedia-Experiment. Elmar Schenkel widmet sich in Cyclomanie (Edition Isele) dem Thema Fahrrad und Literatur. Die quietschbunte und skurrile Fantasy-Welt Donjon (Reprodukt) fasziniert immer wieder. Allerdings ist es wohl leider auch bei plötzlich hereinbrechendem Reichtum unmöglich, in einem Menschenleben alle der 299 Comic-Bände zu sammeln.

Von diesen Seesternen wird hoffentlich noch die eine oder andere Rezension im Leipzig-Almanach zu lesen sein. Und wer wirklich etwas über Strandgut wissen möchte, dem sei gleichnamiges Buch (Hinstorff) von Gerhard Priewe empfohlen: Finden, auflesen, mitnehmen?
(Fotos: Franziska Reif)

Leipziger Buchmesse 2009
Messe Leipzig
12.-15. März 2009

Zur Buchmesse 2008:

17.03.2008
Von Büchern und anderen Freu(n)den: Leipziger Buchmesse 08 (Franziska Reif & Tobias Prüwer)

Zur Buchmesse 2006:

24.03.2006
Fragen für den Einwanderungstest: Welche Stadt ist Deutschlands Buchmetropole? – „Leipzig liest 2006“ (Steffen Kühn)

Zur Buchmesse 2005:

21.03.2005
Leipziger Buchmesse – Neuheiten auf dem Kinderbuchmarkt (Babette Dieterich)

21.03.2005
Leipziger Buchmesse – Buchempfehlung: Die Lyrikanthologie „Grün pflanzen. Natur, Lyrik“ (Babette Dieterich)

20.03.2005
Leipziger Buchmesse – Buchempfehlung mit Kurzinterview: Uwe Tellkamp „Der Eisvogel“ (Madeleine Rau

Zur Buchmesse 2004:

01.04.2004
Leser hört die Signale! Impressionen von der Leipziger Buchmesse (Roland Leithäuser)

Zur Buchmesse 2003:

20.03.2003
Nichts als Lesungen zur Buchmesse (Grit Kalies)

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