Eine Schwalbe macht noch keine Oper

Romantische Liebe in postmodernen Zeiten in der Oper Leipzig

„Ist das Leben nicht eine einzige Durchfahrtsszene mit Zwischenstopps? Im Zeitalter der Technisierung inhalieren die Menschen Tempo, ängstigen sich vor Stillstand und irren rastlos in einer Maskerade auf der Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens umher“, heißt es in „Gedanken und Notaten während der Proben“ zu Immo Karamans und Fabian Poscas Leipziger Inszenierung von Puccinis Spätwerk La Rondine, zu deutsch Die Schwalbe. Diese Sätze könnten wie ein Motto über dieser Aufführung der selten gespielten „Lyrischen Komödie“ stehen, die am 28. März 2009 in Leipzig Premiere feierte. Dass Puccinis Schwalbe keinen Sommer in der Geschichte der Oper machen konnte, ja schlimmer noch: Dass sie sich auf dem Weg in den Kanon hoffnungslos verflogen hat, lag vor allem an einem wenig aussagekräftigen Libretto. Dieses Textbuch ist für die großen Gedanken, die es auszudrücken vorgibt, einfach nicht tragfähig.

Um so erstaunlicher ist, dass es Karaman und Posca mit seiltänzerischer Sicherheit gelingt, aus dieser Parabel über die Möglichkeiten der romantischen Liebe ein erstaunliches Potenzial an Moderne herauszufiltern. Puccini schien von der Idee der Technisierung, vom zunehmenden Tempo des Lebens in der Großstadt, vom Phänomen der Beschleunigung nicht nur fasziniert. Es stellte sich für ihn als komponierenden Melancholiker prinzipiell bereits die Frage, inwiefern dieses Leben mit dem „Tempo-Virus“ in der „Non-Stop-Gesellschaft“ in der Uniformität zu enden drohte, weil es Freiräume vernichtete. Welche Chancen hat die sogenannte „romantische Liebe“ in einer solchen pausenlos aktionistischen Welt?

Das scheinbar harmlose Rollenspiel um die vertauschte Identität, mit der sich die vom Dichter Prunier zur Schwalbe geadelte Grisette Magda unter Vortäuschung falscher Tatsachen in die Welt des erfolgreichen und vermögenden Ruggeros hineinstielt, interpretieren Karaman und Posca als das Zeitgefühl einer Epoche, die nur undeutlich ahnen konnte, wohin Beschleunigung führen kann. Sie unterlegen zur Verdeutlichung dieser damaligen Zeitstimmung aus heutiger Sicht eine (medien-)kritische Perspektive.

War die Schwalbe im 19. Jahrhundert (und in Puccinis Musik) das Symbol der Sehnsucht nach Weite, Erfüllung, Entfernung von der rauhen Wirklichkeit – wie dies beispielsweise auch im gleichnamigen, berühmten Gedicht Friedrich Rückerts zur Sprache kam -, ist dieses schöne Zeichen des Traumes von einer „besseren Wirklichkeit“ in dieser schlüssigen Inszenierung nur noch zum faden Herumzappen in virtuellen Scheinwirklichkeiten verkommen. Aus dieser Virtualität ist jedes „wirkliche Leben“ verschwunden. Hier flieht man aus Angst vor innerer Leere nur noch von einer (digitalen) Ebene in die andere. Es sind die Gefängnisse der Mediatisierung, die Karaman und Posca als Verhängnis der Gegenwart handwerklich stilsicher herausarbeiten: Die realen Opernzuschauer blicken auf die Bühne, auf der die Ausführenden erwartungsvoll in einem monitorähnlichen bedrohlich abgezirkelten mahagonifarbenen Rahmen stehen und wiederum in einen zweiten Rahmen schauen, hinter dem die Figuren mal hinter einer geheimnisvollen Tür, mal in einem künstlichen, blätterlosen knorzigen Wald verschwinden. Dieses Bild der Schau, der Illusion und Vision, ist Anfang und Ende der Inszenierung und rundet einen geschlossenen Kreis ab. Überdies ist es eine schöne Versinnlichung des alten Problems der imaginären Dimension des Theaters und zugleich ein eindrückliches Bild der aktuellen medialen Gegenwart.

Doch sind diese Rahmen auch Chiffren verlorener Gefilde. Sie zeigen die unscharfen Konturen einer Welt, in der man verlernt hat, zwischen Wirklichkeit und Virtualität zu unterscheiden, weil es aus der Verstrickung mit der Virtualität kein Entrinnen mehr gibt. Kein Zweifel: Die Figuren dieser Welt leiden an den Folgen des Wirklichkeitsverlustes. Eindrucksvoll zeigen Karaman und Posca an diesem im Prinzip ganz banalen Operettenstoff, wie verzweifelt diese Figuren sind, wenn sie auf sich zurückgeworfen werden. Vergebens versuchen sie, für sich zu sein. Diesen Zustand halten sie nicht aus. In den lichten Momenten, in denen ihnen die Tragik ihres Schicksals bewusst wird, fliehen sie über den zweiten Rahmen in die nächste Ebene, in die dritte oder vierte Dimension. Dort geistern sie herum, hocken traurig mit dem Rücken zum Publikum oder versuchen, gewissermaßen „zurückzukommen“. Dieser merkwürdige Eindruck wird auch dadurch erzeugt, dass die Bühne während des gesamten ersten und zweiten Aufzuges in einem rotbraunen halbdunklem Dämmerlicht gehalten wird, das bei nicht wenigen Zuschauern allerdings auch zu enormen Ermüdungserscheinungen führt, da dieses reduktionistische, starre, leblose und unbarmherzige Bühnenbild ganz in sich selbst verharrt.

Einer der Clous der Inszenierung ist es jedoch, wenn Karaman und Prosca Magda in einem Kostüm zeigen, in der sie jene neue Identität annimmt, um von der Grisette zur Dame von Welt zu avancieren – und plötzlich tauchen unzählige Frauen auf, die ganz wie sie diese Kleidung angenommen haben: Das schneeweiße Hemd, die roten Handschuhe – alle recken stolz diese Devotionalien der Verwechselbarkeit in tänzerischen Posen den Zuschauern entgegen. Es gibt keine Flucht mehr aus der Uniformität. Selbst das liebende Einzelwesen – in der Oper durch sein Leid und sein tragisches Schicksal der Kern des Unverwechselbaren – ist hier dazu verdammt, immer nur eine Kopie zu sein, die man beliebig oft vervielfältigen und auf verschiedenen Ebenen „abspeichern“ kann. Die Schwalbe war einst ein symbolisch aufgeladener Zugvogel der Wirklichkeit, Puccinis La Rondine ist in dieser Inszenierung nur noch ein akustisches Signal in einer Bilderwelt, in der sich alles auf der beschleunigten Flucht in die nächste mediale Dimension befindet.

Schein und Sein der grenzenlosen Liebe in den Grenzen der postmodern mediatisierten Gesellschaft ist deshalb das große Mysterium, um das dieses intelligente Denkspiel kreist. Es verdient Respekt, wie viel Farbe und Kontrast Karaman und Prosca aus dieser matten Vorlage herausgeholt haben. Dies konnte nur gelingen, weil ein hervorragendes Ensemble dabei mitspielte, das gesanglich und darstellerisch hochmotiviert war. In der Einheit von musikalischer und schauspielerischer Gestaltung leistete Tiburius Simu als Dichter Prunier viel Erfreuliches. Simu singt und spielt diese Rolle mit dem Phänotyp und der Geste des romantischen Schönlings, energisch, bewegungsfreudig und voller Elan, allerdings mit einem Hang zur überschüssigen Energie der Stimme. Susanna Anderssons Lisette gehört zu den vielen musikalischen und darstellerischen Höhepunkten des Abends. Schöne, klare Linien, feine dynamische Kontrastierungen gelingen ihr spielerisch und mit einer Brillanz, die staunenswert war. Nicht weniger herausragend ist Elaine Alvarez musikalische Gestaltung der Magda, deren Dramatik sie feinsinnig schattiert in den Motiven ihres inneren Konfliktes hörbar macht. Diese stilistisch so sensibel und sorgsam ausgearbeitete gesangliche Durchdringung dieser Figur hielt das Publikum trotz einiger Längen, die diese Oper durchziehen, in Atem. Was der Chor leistete, war aller Ehren wert. Das Gewandhausorchester unter Roger Epple schwelgte im impressionistischen Klangrausch und ließ Puccinis Musik mit dem Atem der großen, ausladenden, breit angelegten Geste geradezu erschallen. Das Publikum war von allem sehr angetan.

Giacomo Puccini: La Rondine
Musikalische Leitung: Roger Epple
Inszenierung und Choreographie: Immo Karaman, Fabian Posca
Bühne: Kaspae Zwimpfer
Kostüme: Nicola Reichert
Mit: Elaine Alvarez, Edgaras Montvidas, Susanna Andersson, Tiberius Simu u.a.
Chor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester
Oper Leipzig

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