Inspirierender „Holländer“ in Berlin

Fernab des „Weltmeers Fluten“ – An der Deutschen Oper Berlin verlegt Tatjana Gürbaca Wagners Fliegenden Holländer in den Börsensaal

Kein Schiff, nirgends. Norwegens raue Küste entpuppt sich als Börsensaal im funktionalen Chique, lediglich die Aktienwerte schlagen hier ihre Wellen. Kapitän Daland, der seine Tochter bei erstbester Gelegenheit bereitwillig verschachern wird, scheint als Global Player gewieft vor allen Krisen den weltweiten Markt im Griff zu haben, seine Broker-Mannschaft funktioniert als entseelte Finanz-Maschinerie.

An der Deutschen Oper Berlin hat Tatjana Gürbaca, die mit der umjubelten Uraufführung von Philippe Hersants Der schwarze Mönch vor drei Jahren ihre Visitenkarte an der Oper Leipzig abgegeben hat und hier im Mai Carmen inszenieren wird, zum Finale der Spielzeit 07/08 Richard Wagners Fliegenden Holländer von jeglichem maritimen Anschein bereinigt, bei der Gelegenheit aber auch der romantischen Idee des Werkes eine konsequente Absage erteilt. Statt der Naturgewalt des Meeres sieht man sich nur mehr der Gewalt des Kapitals ausgesetzt, alles Transzendente scheint inmitten dieses postmodernen Mikrokosmos undenkbar. Der sagenumwobene fliegende Holländer selbst, der wegen seiner Herausforderung Gottes zum ewigen Herumirren auf den Meeren verdammt ist und nur alle sieben Jahre in der bedingungslosen Liebe einer Frau Erlösung finden kann, wird zum Urvater der Globalisierung erklärt. Etwas unvermittelt platzt er in Dalands Imperium herein und betrachtet ungläubig die Früchte seines eigenen Schaffens.

So weit, so gewöhnlich, zumal die momentan dominierende Deutung des Fliegenden Holländers als kritische Abarbeitung an Kapitalismus und Globalisierung längst von der allseits beschworenen Krise eingeholt wurde. Doch Gürbaca begnügt sich nicht mit vordergründigen Aktualisierungen oder einer Aneinanderreihung loser Assoziationen, sondern erzählt äußerst detailfreudig ihre Geschichte. Das muss nicht unbedingt jedermanns Sache sein, bringt aber – mitunter gerade in der Reibung zum Libretto – überraschende, verstörende, ja auch poetische Bilder hervor und gewährt vor allem einen interessanten Blick auf die handelnden Figuren.

Den gibt zum finalen Erlösungsmotiv der Ouvertüre ein mädchenhaftes Senta-Double über ein sich allmählich öffnendes Fenster im Vorhang frei, hinter dem Dalands Mannschaft nach anfänglichem Slow-Motion ihrem hektischen Geschäft nachgeht. Dieses alter ego ist es auch, das in dem Holländer sofort einen Seelenverwandten zu erkennen glaubt, von ihm aber anfangs schroff abgewiesen wird. Ohnehin wirkt der Holländer mit abgenutztem Pelz und Bowler eher wie ein Aussteiger als ein ewig herumirrender Untoter, Ahasver gleich. Kein Wunder, dass Daland und sein Controller, der Steuermann, den unerwarteten Gast zuerst mit jovialem Sarkasmus begegnen, nach Prüfung seiner Bonität aber schnell vertragseinig werden: Ein „Just Married“-Schild beschließt ihre Fusion, während Daland von seiner Mannschaft ob des eingebrachten Kapitals feiernd abgetragen wird und der Holländer irritiert zurückbleibt.

Allein Senta scheint bei dieser patriarchalisch eingefädelten Geschäftsehe ein lästiges Anhängsel zu sein. Dass sie sich aber keinesfalls mit einer passiven Rolle begnügen wird, geht mehr als deutlich aus dem zweiten Bild hervor: Wie ein entrückter Fremdkörper wirkt sie inmitten der anderen Frauen, die sich in Marys Beautylounge zum Surren des Spinnliedes für das abendliche Verlobungsfest aufhübschen. Nur für den Moment eröffnet sich die Chance eines Ausbruchs aus dem überkommenen Rollenhandeln, als sie – gebannt durch Sentas Ballade vom fliegenden Holländer – zum Aufstand im Kosmetiksalon schreiten. Allerdings verfallen sie prompt wieder in ihr tradiertes Verhaltensmuster und beseitigen beschämt die Unordnung, als Erik die bevorstehende Heimkehr von Daland und seinen Mannen verkündet.

Hat der Spinnchor vor allem für einige Lacher gesorgt, so entwickelt Tatjana Gürbaca in den Begegnungen zwischen Senta, Erik und dem Holländer ein psychologisch feinsinniges Kammerspiel von seltener Qualität. Der Jäger Erik, in anderen Inszenierungen häufig eine überzeichnete Karikatur, tritt als emotionaler junger Mann auf, der an seinen nicht mehr erwiderten Gefühlen zu Senta zu zerbrechen droht. Als beide an einem verwaisten Kinderwagen über ihre gegenseitige Entfremdung erschrecken, tritt der Holländer bereits in Erscheinung und scheint Verständnis für Erik aufzubringen. So erweist sich der Holländer gegenüber Senta auch ein wenig zurückhaltender, kann den auf ihn projizierten Vorstellungen nicht ganz gerecht werden. Während sie sich spontan bis auf die Wäsche entkleidet, ist er nur bereit, seinen Mantel herzugeben, den Senta sich – einer anderen Identität gleich – bereitwillig aneignet. Wie ein Todesengel tritt hier das Senta-Doubel zwischen sie, ihr Bündnis zum Ausbrechen aus der überlebten Ordnung steht unter keinem guten Stern. Auch die Blutsbruderschaft, die sie mittels einer vom Holländer gereichten Schere schließen, kann über das eklatante Missverständnis zwischen ihnen kaum hinwegtäuschen.

Die Verlobungsparty im dritten Bild gerät aber schon zuvor gehörig aus den Fugen, der reichlich fließende Alkohol zeigt nur anfangs seine verdrängende Wirkung. Den Männern erscheint alsbald die Mannschaft des Holländers als seelenlos stereotypes Spiegelbild ihrer selbst, das sie durch ihre schändlichen Spielchen mit den Wehrlosen aber nicht bewältigen können. Ihre Frauen erinnern sich darauf des zuvor geprobten Aufstandes, doch ist es zu spät, um aus dem sich ausbreitenden Chaos einen Neubeginn zu wagen, weshalb sie – vielleicht etwas zu symbolträchtig – aus Urnen Asche verstreuen. Ein wenig resigniert betrachten Senta und der Holländer das Werk, an dem sie ihren Anteil tragen. Der Holländer unternimmt einen letzten Anlauf zur Restitution der Ordnung und versucht, Senta und Erik wieder zusammenzuführen. Zu spät, denn Senta ergreift wieder die Schere und öffnet erst Erik, dann sich selbst die Halsschlagader, die Frauen machen es ihr einem Ritual gleich nach.

Zurück bleibt ein höhnisch lachender Holländer. Verzweiflung ob der vertanen Chance oder höhnischer Spott, da sich – in Wiederholung der Geschichte – erneut ein junges Mädchen für ihn geopfert hat? Die Inszenierung lässt die Frage bewusst offen und fordert den Zuschauer, bleibt damit aber gerade im Schlussbild ein wenig vage. Letztendlich verbirgt Sentas alter ego zu den letzten Takten wieder den Blick auf das Geschehene, es kommt durch die Scheibe zu einer letzten Berührung mit dem Holländer.

Mag sein, dass Tatjana Gürbacas Interpretation des Fliegenden Holländer dramaturgisch nicht in jedem Detail schlüssig ist, ihre szenische Realisation besticht aber durch ausgesprochene Spielfreude und hat vor allem zum wechselseitigen Beziehungsgeflecht der Protagonisten einiges zu sagen. Unter denen ragt Matthais Klink als Erik deutlich heraus. Sein ausgesprochen lyrisch klingender Tenor überrascht anfangs, ist aber den technischen Anforderungen der Partie jederzeit gewachsen und unterstützt das Figurenprofil eines verzweifelten, aber ernstzunehmenden jungen Liebenden, dem Klink auch spielerisch ohne Abstriche gerecht wird. In der Titelrolle hat Juha Uusitalo trotz vorbildlicher Intonation mit einer leichten Indisposition zu kämpfen, seiner Stimme fehlt es gerade im dritten Aufzug am gewohnten Volumen. Szenisch wirkt sein Holländer neben den anderen Protagonisten aber mitunter etwas unbeteiligt. Manuela Uhls mädchenhafte, aber dennoch selbstbewusst zur Tat entschlossene Senta zeichnet sich durch eine saubere Höhe aus, ihre Mittellage klingt jedoch ein wenig angestrengt. Stephen Bronk besticht als gewitzter Daland, der Steuermann von Michael Spyres steht ihm in nichts nach und als emsige Mary lässt Liane Keegan keine Wünsche offen.

Jacques Lacombes Dirigat stellt sich über weite Strecken mannschaftsdienlich in den Dienst der Sänger, könnte aber gerade in der Ouvertüre und den Zwischenspielen etwas transparenter sein. Beim Chor ergibt sich ein ambivalentes Bild: Während die Damen ihren Part tadellos meistern, neigen die Herren dazu, den besungenen Gewalten eine Spur zu kraftmeierisch Ausdruck zu verleihen, was sich auf die Präzision einiger Einsätze auswirkt.

An der Garderobe, ja selbst noch in der U-Bahn hört man nach Vorstellungsende heftige, teils kontroverse Diskussionen. Tatjana Gürbacas Interpretation von Wagners Fliegendem Holländer ist streitbar im besten Sinne, regt zum Nach- und Weiterdenken an. Das Leipziger Opernpublikum darf wohl auf eine unkonventionelle Carmen-Inszenierung fernab der allseits bekannten Sevilla-Folkloristik hoffen. Und es sollte den Fliegenden Holländer an der Deutschen Oper Berlin in Erwägung ziehen.

Richard Wagner: Der Fliegende Holländer
Musikalische Leitung: Jacques Lacombe
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühne: Gisbert Jäkel
Kostüme: Silke Willrett, Marc Weeger
Dramaturgie: Carsten Jenß
Chöre: William Spaulding
Fotos: Matthias Horn
Deutsche Oper Berlin

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