Techniknüchternheit

Ernst Oldemeyer kartografiert mit „Leben & Technik“ lebensphilosophische Ansichten zur Frage nach der Technik von Nietzsche bis Plessner

Gesellschaft und Technik sind seit dem Beginn des neueren Zeitalters so ineinander verflochten, daß die Frage nach der Priorität von Wirtschaft oder Technik an die mahnt, ob das Huhn oder das Ei zuerst dagewesen ist.
Theodor W. Adorno: Über Technik und Humanismus

Technikphilosophie ist ein eher unbekannter Bereich dieser Wissenschaft, die ohnehin gern mit der Plauderei über Gott und die Welt gleichgesetzt wird. Bei dem Wort denkt manch einer vielleicht noch an ethische Fragen, daran etwa, ob Genmais Non-Food ist oder Klonen legitim. Dass es auch sinnvoll ist, überhaupt erst einmal nach dem Wesen der Technik zu fragen – wie das in der Philosophie üblich ist – scheint vielen überflüssig. Schließlich weiß man doch, was Bohrhammer, Kaffeemaschine und Cyberspace sind.

So einfach liegen die Dinge aber nicht. Denn mit dem Werkzeugcharakter ist Technik nicht adäquat beschrieben. Und zwischen einem Stein, der eine Nuss knackt und der MIR liegen buchstäblich Welten. In der philosophischen Diskussion haben sich zwei Positionen herausgebildet, die weiterhin um den Werkzeugcharakter und seine Bewertung streiten. Die einen sehen Technik als nichts Besonderes an und finden sie in keiner Weise problematisch, die anderen verdammen sie als künstlich und per se schädlich. Eine differenzierte Sicht ist aus der Lebensphilosophie zu gewinnen, wie Ernst Oldemeyer schlüssig zeigt. Er skizziert mehr oder weniger exponierte Positionen und präsentiert einen nicht zu komplexen Spaziergang durch die bisher vernachlässigten lebensphilosophischen Reflexionen über das Phänomen Technik.

In dieser philosophischen Strömung dient der Lebensbegriff als fundamentale Kategorie. Leben wird als leibliche Existenz verstanden und Gefühl sowie Instinkt gegen logisches Kalkül und einen verengten Vernunftbegriff gesetzt. Dabei wird der leibliche/organische Erfahrungsbereich der Logik und dem Kalkül gegenübergestellt, teils als komplementäres, teils als konträres Konzept. Die so eingenommene philosophische Position beschränkt sich nicht auf reine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und kritisiert im Gegenteil die naturwissenschaftliche Perspektive, alle Betrachtung der Lebensphänomene auf quantifizierbare Verfahren zu reduzieren. Leben wird hier zum Maßstab gegen umfassende Technokratie wie Rationalisierung. Da liegt eine lebensphilosophische Auseinandersetzung mit dem Technikbegriff nah. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig diese bisher eingehende Betrachtung gefunden hat. Diese Lücke füllt Oldenmeyers Studie. Sie folgt keiner chronologischen, sondern einer systematischen Ordnung, die auf die steigende Ausdifferenzierung des Konzepts ausgerichtet ist.

So hat Friedrich Nietzsche (1844-1900) die Technik zwar noch nicht als ein eigenständiges Phänomen wahrgenommen und seine eher randständigen Bemerkungen zu ihr können lediglich als erster Ort der lebensphilosophischen Betrachtung dienen. Er hat aber bereits das Wesen der Naturwissenschaften und damit des Technischen viel früher erkannt als andere: Hinter ihnen steckt immer ein Erkenntnisinteresse, es gibt auch in der Wissenschaft keine nicht-interessierte Position. Damit stellen sie zumindest immer auch die Gefahr da, im Herrschaftsinteresse zu agieren. Nietzsche hat weiterhin auf die Auswirkungen des Einzugs der Maschinen in die Arbeitswelt hingewiesen, welche die Produktionsverhältnisse nicht nur erleichtern, sondern auch entfremden und abstumpfen können. Und drittens gab der Philosoph mit dem Hammer bereits erste Hinweise auf die Zerstörung der natürlichen Umwelt durch die industrialisierte Maschinenwelt.

Bei Georg Simmel (1858-1918) zeigt sich Technik als wesentliches Mittel innerhalb des Zweckhandelns und entwickelt sich zunehmend zu einem eigenen kulturellen Teilbereich. Dies wird dann riskant, wenn die Werkzeuge selbst zweckhaft werden beziehungsweise Ziele – sei es auch nur in Form des Sachzwangs – setzen. Denn dann gerät der Menschen ins Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen. Denken wir an gegenwärtige Problemfelder wie Energieversorgung oder Treibstoffbeschaffung, wird der hier angesprochene Punkt deutlich. Da die technischen Systeme zudem einer Art eigenen – oder besser: sehr engen Logik – unterliegen, können sich heute als „Sachzwänge“ bekannte Dominanzstrukturen etablieren.

Die Freunde Ludwig Klage (1872-1956) und Theodor Lessing (1872-1933) haben in der Technik gleich einen Motor des kulturellen Untergangs erblickt, der ein natürliches, vom Geist nicht unterdrücktes Leben begräbt. Dabei zeigen sich in ihrem verabsolutierenden Pessimismus Spiegelbilder der gleichsam blinden Vertreter des Fortschrittsoptimismus. Während bei Klage bereits der ganze Katalog der Warnungen vor den technikgemachten Umweltkatastrophen, von agrargeleiteter wie touristisch bedingter Landschaftszerstörung bis zum ernährungsindustriell ausgelegten Tiermord, tritt bei Lessing noch eine explizit politische Dimension hinzu, mit den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, in denen Menschen zum Kanonenfutter wurden, wie auch der industriell angetriebenen Kolonialisierung und der damit verbundenen Ausbeutung.

Martin Buber (1878-1965) ist bekannt für sein eindringliches Plädoyer für das dialogisches Prinzip eines Ich-Du gegenüber einer Welt, die von Subjekt-Objekt-Verhältnissen – dem Ich-Es – geprägt ist. In diesen zwei möglichen Haltungen zur Welt betrifft die zweite die Welt der Technik und Institutionen. Bubers Beitrag besteht im Insistieren auf die Wichtigkeit beider Haltungen, also die Aufrechterhaltung der interpersonalen Beziehungen gegenüber der drohenden Reduktion auf das Ich-Es-Verhältnis. Bei ihm treten sowohl der Aspekt der technischen Kreativität auf als auch die Gefahr der Verdinglichung von Geist oder Bewusstsein. Beide Welten erscheinen für das Kulturlebewesen Mensch als unerlässlich.

Bei Nikolaj Berdjajew (1874-1948) ist die Technik die Grundvoraussetzung von Kultur. In seinem eschatologisch, von der christlichen Heilserwartung geprägten Denken zeigt sich die technische Seite der Naturbefreiung deutlich. Aber auch er ist nicht blind für die mögliche Abhängigkeit des Menschen von den technischen Vollzügen. Seine Hoffung ruht auf dem Bewusstsein, das in dieser Hinsicht als Regulator dienen soll.

Werkzeuge sind für Henri Bergson (1859-1941) lebensnotwendige Utensilien. Technik ist so quasi in der menschlichen Natur angelegt. Sie stellt ihm zufolge bereits in einem weiten Sinne eine Sprache im Sinne eines Zeichensystems dar, wenn sie etwa in Form der Kartografie oder Uhr Raum- und Zeit strukturieren. Kritik scheint hier eher an der globalen Ungleichverteilung der Ressourcen angebracht, dass die technischen Möglichkeiten eben nicht zur Linderung menschlichen Leids eingesetzt werden.

Zunächst etymologisch geht Leopold Ziegler (1881-1958) vor. Er beginnt beim umfassenden altgriechischen Begriff téchne, das sowohl Kunst wie Handwerk bedeutete und letztlich alle Fertigkeiten des aktiven Lebens bezeichnete. In einem ersten Schritt beschrieb er Technik daher als für den Menschen naturgegeben und zur Kompensation seiner Schwächen dienend. In einem zweiten Schritt nun sieht er die Technik in ein ökonomisches Geflecht eingespannt, das technische Entwicklung nicht mehr direkt durch die Bedürfnisse des Menschen, sondern durch die kapitalistische Wirtschaftsform bestimmt. Dadurch greife sie in den Bereich des menschlichen Spiels ein, von dem téchne traditionell getrennt war.

In Max Schelers (1874-1928) philosophischer Anthropologie tritt Technik als Aspekt des Geistes auf, den er in ein gegenseitiges Verhältnis mit dem triebhaften Lebensdrang setzt. Der Geist ermöglicht es dem Menschen, die Welt zu transzendieren, für sie offen zu sein. Im Zuge der Ausdifferenzierung der verschiedenen geistigen Kulturformen unterliegt auch die Technik einer Entwicklung. Vom Werkzeug der praktischen Vernunft geht sie eine produktive Verbindung mit der Wissenschaft ein, welche Naturerkenntnis wie -beherrschung befördert. Auch bei Scheler führt schließlich die Engführung mit dem Kapitalismus zum Konkurrenzkampf, dem gleichfalls die Wissenschaft unterliegt. Der Naturkontrolle steht der Mangel an Techniken für die innere Natur entgegen, fehlt sozusagen die Seelenpflege, die nach Scheler wichtig für einen Ausgleich ist.

Und schließlich verweigert sich Helmut Plessner (1892-1985) der einfachen Fortschrittsbejahung oder Technikdämonisierung. Technik erscheint hier nicht nur – wie bereits dargestellt worden ist – als zur menschlichen Natur zugehörig. Sie erst versetzt – insbesondere in Form der Naturwissenschaften – in die Lage, bestimmte Erkenntnisse zu gewinnen, leistet einen Beitrag zur Orientierung des Menschen in der Welt. An diesem Ort will Plessner die Technik aufgehoben sehen und ist in dieser Sicht nüchterner als Scheler. Technik wird hier als eine erkenntnisgewinnende Haltung angesehen, die aber nicht zur alleinigen Weltsicht geraten darf. Sie ist nur ein Teil im Zusammenspiel der kreativen menschlichen Kräfte.

Um ein kurzes Fazit zu ziehen: Es ist wohl die größte Leistung der hier grob dargestellten Positionen, nicht der Dichotomie zwischen Natur und Kultur zu verfallen, wie es zu häufig in der technikphilosophischen Diskussion Usus ist. Hier geht es weder darum, euphorisch den Sieg über erstere zu feiern, noch einen künstlichen Verfall zu verabsolutieren. Technik wird vielmehr – in verschiedenen Nuancierungen – als ein Mittel der Welterschließung angesehen, mit produktivem wie gefährlichem Potenzial, und damit weisen manche Parallelen etwa zu Ernst Cassirer und Martin Heideggers Fragen nach der Technik auf. Bei den Autoren werden auch die Verflechtungen der Technik mit dem ökonomisch-sozialen Komplex deutlich, die oft unter den Tisch fallen. Ohne dieses Eingebundensein in die sozialen Praxen, wirtschaftlichen Erwägungen und politischen Entscheidungen wird aber das Phänomen Technik verfehlt. Nur so kann man noch heute dem modernen Fortschrittsglauben anhängen, dessen Vehikel nun einmal die technischen Apparate sind, und der falschen Gleichung folgen: Technik = Weltverbesserung. Gewiss, diese kann zur Freiheit beitragen, aber im Gegenteil ebenso einschränken.

Ernst Oldemeyer: Leben & Technik. Lebensphilosophische Positionen von Nietzsche zu Plessner
Wilhelm Fink Verlag
München 2007
176 S. – 19,90 €
www.fink.de

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.