Jenseits aller Folklore

Gegen den Strich gebürstet: Bernd Mottls Neuinszenierung von Léon Jessels „Schwarzwaldmädel“ als MuKo-Sternstunde

Am 25. April 2009 war der Tag des Baumes. Kein anderes Datum hätte für die Premiere der Neuinszenierung von Léon Jessels Operette Schwarzwaldmädel in der MuKo passender gewählt sein können. Es gibt allerdings ungeachtet dessen einige hochsymbolische Gründe, einer solchen Wiederaufführung ausgerechnet dieses Werkes zunächst mit gemischten Gefühlen entgegen zu sehen. Noch nicht vergessen ist, dass diese Operette einst zur Lieblingsmusik des „Führers“ zählte und die Schwarzwaldfolklore dieses Stückes sich unter Parteigenossen im Nationalsozialismus großer Beliebtheit erfreute. Und ein Lehrstück in deutscher Geschichte ist auch Jessels Biographie selbst, die sich nicht – und mögen seine Melodien noch so volkstümlich sein – von seinen Werken loslösen lässt. Der Komponist begann seine Laufbahn im Kaiserreich. Scheinbar ganz harmlos machte er Militarismus und Chauvinismus als Salonmusik in den bürgerlichen Wohnzimmern beliebt – zum Beispiel in seinem viel gespielten Charakterstück Die Parade der Zinnsoldaten op. 123, die ganze Generationen von klimpernden „Höheren Töchtern“ mit viel Pedal und spitzen Fingern am Klavier herunterschwadronierten. Am Ende – nach einem „heftigen Schlag“ im Fortissimo – fallen alle Zinnsoldaten wie in einer richtigen Schlacht um. Dergleichen humorige Antizipationen todbringenden Kanonendonners fanden bei kriegsverliebten Deutschen begeisterte Zustimmung. Schnell verwöhnte Jessel der Erfolg: Seine Berliner Operetten ließen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Kassen klingeln. Der Komponist seinerseits sympathisierte frühzeitig mit der „Bewegung“ und wäre nur allzu gern ein waschechter Nazi geworden, wenn ihm nicht seine jüdische Abkunft im „Dritten Reich“ trotz allerhöchster Fürsprecher zum Verhängnis geworden wäre?

Alle diese grotesken und unrühmlichen Details, über die in gebührender Kürze auch das Programmheft ansatzweise informiert, brauchen einer erfolgreichen Neuinszenierung des Schwarzwaldmädels nicht unbedingt im Weg zu stehen, aber sie klingen bei denkenden Zuschauern mit im Ohr. Wenn es jedoch einem Regisseur wie hier Bernd Mottl gelingt, den Klippen einer platten Folklore oder pseudoromantischen Schwarzwaldverewigung entgegenzuwirken, können die unverwüstlichen Operettenmelodien Jessels nur desto unverfänglicher ihre nach wie vor auffallende Wirkung entfallen. Mottl liefert in seiner ungewöhnlichen Lesart ein Paradebeispiel dafür, dass der Kontext entscheidet, wie Musik an Ort und Stelle ihrer Rezeption aufgenommen wird. Nichts von Schwarzwaldmädelromantik ? la ZDF-Fernsehgarten-Revival oder Seniorennachmittag, nichts von angestaubter Sonja-Ziemann-Verfilmung im verlogen idyllisierenden Heimatfilmklischee, sondern hier kommt alter Wein in neue Schläuche.

Doch Mottl dekonstruiert das Schwarzwaldmädel nicht, wie es die meisten aus seiner Zunft zur Zeit vermutlich angehen würden, indem sie die ideologische Verfänglichkeit als einen folkloristischen Augiasstall im Dreivierteltakt entlarven würden. So einfach macht es sich Mottl nicht. Stattdessen baut er das Stück ganz einfach behutsam um, indem er das Libretto von August Neidhardt umschreibt und mit Witz und Ironie den alten Zündstoff mit einem zeitgemäßen, weniger ideologieanfälligen substituiert. Dazu hat Andreas Bisowski eine neue Dialogfassung geschrieben, die wegen ihrer hohen Pointendichte und der Behutsamkeit, mit der die ursprünglichen Figurencharakteristiken berücksichtigt worden sind, musterbildend sein könnte. Denn auf diese Weise ließe sich manche, wegen des unmöglich gewordenen Librettos verloren geglaubte Operettenperle wiedererwecken. Keine gähnende Langeweile mehr in den Sprechpassagen, in denen die Pointen müde auskullern wie verirrte, daneben gegangene Kugeln auf einer Kegelbahn, sondern gut gemachte agile und muntere Denkanstöße, die treffsicher wirken.

Natürlich sind Mottls Lesart und Bisowskis Dialog frech und bürsten das Stück äußerst gründlich gegen den Strich. Bei ihnen kann der Schwarzwald kein Stück identitätstiftender „Heimat“ mehr sein, weil Berge, Wälder und Gebäude dem rücksichtslosen Ehrgeiz des Berliner Großunternehmers Schmußheim zum Opfer fallen, der am traditionsreichen Schinkenstandort aus purer Profitgier eine Riesenfabrik von genmanipulierter Vitawunderwurst aufbauen will. Landschaften haben in dieser Interpretation nichts Unverwechselbares, Ureigenes mehr – und sei dies auch nur der Charme des Morbiden – sondern sie verkommen zu uniformierten regionalen Gemeinplätzen einer geldgeilen Kultur- und Profitindustrie. So wackelt der Kronenleuchter des alten Gasthauses, das Friedrich Eggert im Bühnenbild bezeichnenderweise als eine originalgetreue spiegelbildliche Kopie des MuKo-Saales in Szene gesetzt hat, wenn die Bauarbeiter mit ihren Dixi-Toiletten und Bohrhammern anrücken, um die Berge abzutragen und Gebäude abzureißen. Geschickt konterkariert die giftgrün-rosafarbene Wegwerfwerbetracht der Vitawunderwurstkette auf dem Cäcilienfest die historischen Schwarzwaldtrachten während des traditionellen Bauerntanzes im schwerfälligen, gemütlichen, auch auf der zweiten Zählzeit betonten Dreivierteltakt. Mottl spielt mit Klischees auf doppelten Boden und entwickelt so die Ebene des verborgenen Sinnes, die dem Schwarzwaldmädel sehr gut tut, der aktuelle Spannungsbogen zwischen Kunst und Kommerz wird augenfällig. So wird das Klischee zum spielerischen Versatzstück intelligenter, zum Nachdenken anregender Pointen.

Dies trifft auch auf die ironischen Kostüme Eggerts zu, der Hans, Richard und Theobald – in Jessels Original offenbar von der Wandervogelbewegung mit dem Zupfgeigenhansel inspiriert – kurzer Hand in Sneakers, Vans und Lederjacke steckt, als seien sie einem Lifestylemagazin entsprungen. Die maliziöse Malwine wird als Marketingexpertin im Businesslook präsentiert.

Doch vor allem lebt diese Inszenierung von den im Gesamtbild ausgezeichneten darstellerischen und sängerischen Leistungen, die eine gekonnte Einheit bilden. Roland Schubert ist mit der Rolle des Blasius Römer ideal besetzt, ein wahrer Ausbund an Komik, aber auch glaubwürdiger, echt wirkender Durchdringung der Rolle. Mimik, Gestik und Habitus wirken in ihrer skurrilen Verlegenheit und selbstbewussten Koketterie wie von Heinz Ehrhardt abgeschaut, der dieses Spiel mit dem bewusst Unbewussten meisterhaft zu inszenieren verstand. Vor allem jedoch überzeugt Schubert gleichermaßen auch gesanglich, er gestaltet die Rolle des skurrilen Domkapellmeisters bis ins Detail mit Kraft und Souveränität. Das gilt ebenso für Iva Mihanovic in der Rolle der zu unrecht missachteten Unschuld vom Lande, dem Bärbele, das die Koloraturen munter und wie selbstverständlich rollen lässt wie Kaskaden. Beider sängerische Gestaltung hat Opernniveau und wird so der anspruchsvollen Partitur Jessels gerecht. Ruth Ingeborg Ohlmann als prätentiöse Malwine zeigt dies sogar in ihrer Stimme. Drahtig, mit Verve und Impulsivität bringen Andreas Rainer (Richard), Radoslaw Rydlewski (Hans) und Nicholas Shannon (Theobald) Leben in die Bude. Auch Milko Milev als schmieriger Großunternehmer Schmußheim lässt sich – wie alle anderen – nicht lumpen. Wenn auch nicht alle überdrehten Gesten überzeugen können, ist doch die gute Dialogarbeit in dieser Inszenierung auffällig, die mit den schwungvollen, teils ironischen-pointiert in Szene gesetzten Chor- und Ballettpassagen korrespondiert.

Das Orchester der Musikalischen Komödie spielte überwiegend wie gewohnt souverän mit. Ob die Evergreens wie Malwine, ach Malwine oder andere Ohrwürmer – stets hatte die facettenreiche Partitur Jessels, die an Strauß, Offenbach, aber auch an Weber erinnerte – den klaren, leuchtenden Glanz, der diese Musik vor allem in den bekannten Duetten zu einem Erlebnis machte. Stefan Diederich hielt die Fäden sicher zusammen. So war es kein Wunder, dass das Publikum begeistert reagierte und insbesondere das Inszenierungs-Team bejubelte. Mit dieser soliden, originellen, witzigen und aktualisierenden Art zu inszenieren, wird die MuKo garantiert ihre Zuschauer finden.

Schwarzwaldmädel
Operette von Léon Jessel – Neue Dialogfassung von Andreas Bisowski
Musikalische Leitung: Stefan Diederich
Inszenierung: Bernd Mottl
Bühne & Kostüme: Friedrich Eggert
Choreographie: Mirko Mahr
Mit: Roland Schubert, Iva Mikanovic, Katrin Starick, Mirjam Neururer, Ruth Ingeborg Ohlmann, Radoslaw Rydlewski, Andreas Rainer, Margarete Junghans, Milko Milev, Nicholas Schannon u.a.
Chor, Ballett & Orchester der Musikalischen Komödie
Musikalische Komödie

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.