Eine Busladung Glaube und Melancholie

Die New Yorker Band Antony and the Johnsons spielt in der Alten Oper Frankfurt

Lou Reed, der große alte Poet des Rock und ewiger Chronist des pulsierenden New York, hat es einmal so formuliert: „You can’t depend on any churches / unless it’s real estate that you want to buy / you can only depend on one thing: / you need a busload of faith to get by.“

In Zeiten wie diesen sehnt sich auch der geneigte Musikfan nach etwas sanfteren Klängen und – den Händlerscharen an den weltweiten Märkten gar nicht unähnlich – nach einfachen, klaren Botschaften, die Mut machen, die bezaubern und neuen Glauben schenken. Dafür ist Antony Hegarty aus New York der richtige Mann – zudem einer, dem die höchsten Weihen in Form einer öffentlichen Wertschätzung durch Lou Reed schon zuteil wurden, und dem sein stetig wachsendes Publikum bisweilen quasi-religiöse Verehrung entgegenbringt. Im Schatten wankender Banktürme war es Mr. Hegarty und seiner ebenso eindrucksvollen wie lässigen Formation gegeben, die Akustik der ehrwürdigen Alten Oper mit Klängen auszufüllen, die musikalisch und stimmlich formidabel, dazu gleichsam hochemotional und bisweilen ekstatisch ein bunt gemischtes Publikum für zwei Stunden eines Montagabends alles um sich herum vergessen ließen.

Die Akustik und Weltvergessenheit eines Opernsaals vereint sich hier symbiotisch mit den avantgardistischen Klängen einer New Yorker Formation, die seit den frühen Jahren des neuen Jahrtausends eine global wachsende Fangemeinde aufweisen kann. Was nicht zuletzt an der Ungreifbarkeit der Person und der stimmlichen Aura des „Bandleaders“ Antony Hegarty liegt. Populärkultur, Wikipedia und viele Musikschreiberlinge halten sich bei der Auseinandersetzung mit Hegarty heute verstärkt mit der Frage auf, wer dieser Mann eigentlich sei, was ihn umtreibe, woher er die Kraft seiner Stimme bezieht, die eigentümlich barockhaft irgendwo zwischen Falsett und Vibrato rangiert, ob er überhaupt ein Mann ist und was sich an Interpretationen seiner teils sehr kryptischen Lyrics anbieten möge. Es sei ihnen nachgesehen und man wünscht ihnen, selbst schon einmal in den Genuss eines Konzertabends mit Antony und seiner Band gekommen zu sein – angesichts der kammermusikartigen Darbietung im weiten Rund der Alten Oper werden Rezeptionsversuche obsolet. Lange bleibt die Bühne dunkel, bis eine in surreale Federkleidung gewandete Tänzerin die Bühne betritt und zu Soundfiguren aus dem Off eine moderne Tanz-Choreographie einleitet. Das Motiv ist ein sich stetiges Erheben und wieder Absinken, ein moderner Ikarus im postmodernen Papageno-Gewand. In schwaches Scheinwerferlicht getaucht, kehrt die Tänzerin noch zweimal wieder, um eine jeweils neue Variation des Themas zu tanzen. Dann wird die Bühne schließlich wieder ganz dunkel.

Mit den ersten Klängen von „Where is my Power?“ kommt ein wenig Licht in die Dunkelheit – als löse Hegartys eindrucksvolle Stimme selbst die Finsternis auf. Allmählich entsteht ein Zwielicht, das getrieben vom konstanten Rhythmus des Lieds immer mehr Konturen auf der Bühne freilegt. Die folgenden anderthalb Stunden sind ein gelungenes Spiel aus Licht und Dunkelheit, musikalischem Frohlocken und tieftraurig melancholischem Gesang. Doch nie macht sich Schwermut breit, Antony und seinen sechs Bandmitgliedern, von denen jeder für sich genommen virtuos auf einem oder mehreren Instrumenten ein vortreffliches Solo-Set bestreiten könnte, gelingt es immer wieder, musikalische Spannungsbögen aufzubauen, mit Hörererwartungen zu spielen und diese Mal für Mal zu dekonstruieren. Spannend ist zu beobachten und zu hören, wie das Bandgefüge sich völlig uneitel zu einem harmonischen Satz fügt und dabei dem allgegenwärtigen Mastermind Hegarty immer wieder Platz einräumt, als Primus inter Pares das Publikum in ganz besondere Stimmungen zu versetzen. Dabei nimmt die Kommunikation mit den Menschen in der Alten Oper Frankfurts erst allmählich Konturen an. Frenetisch wird bereits bei den ersten Stücken applaudiert. Dem aktuellen Album The Crying Light räumen Antony and the Johnsons gerade in der ersten Hälfte des Konzerts (zu Recht) viel Platz ein: Epilepsy is dancing, Kiss my name und Another World setzen in ihrer unnachahmlichen Art erste akustische Wegmarken, runden sich gegenseitig ab, auch wenn sie sich kompositorisch mitunter diametral gegenüberstehen. In diesen Songs zeigt sich die Bandbreite des Hegarty’schen Songwritings, das beseelt von mannigfaltigen Einflüssen, die von Culture Club über Dylan bis hin zu Tom Waits reichen, dem gebannten Hörer doch jedes Mal das Gefühl vermittelt, perfekte Lieder zu bauen und dabei traurig-schöne Geschichten zu erzählen, wie sie nur das Leben schreiben kann.

Das alles erfährt einen vorläufigen Höhepunkt im titelgebenden Crying Light, das langgezogen und wehklagend durch den großen Saal rauscht. Hegarty wird nun munterer, spricht mit dem Publikum: „Well, hey – let’s see what happens next“, und schon nähert sich der geheimnisvolle Zampano mit seiner Band den Höhepunkten des Abends. Gewissermaßen schließt sich hier ein Kreis, als die betörend schönen Balladen You are my sister und Fistful of Love erklingen – letzteres war ursprünglich auf dem frühen I am a bird now im Duett mit Lou Reed zum ersten Mal zu hören. Die altehrwürdige Oper erlebt Jauchzen, Pfeifen und Standing Ovations für ein modernes Kammerorchester und seinen stimmgewaltigen Sänger, der über die gesamte Dauer des Konzerts an seinem Flügel verharrt. Cripple & Starfish bildet den Auftakt zur Zugabe, und mit Hope there’s someone findet ein denkwürdiger Frankfurter Konzertabend ein furioses Ende. War in den gut neunzig Minuten dieses Montagabends viel von Einsamkeit und verflossener Liebe die Rede, so ist es mehr als tröstlich zu wissen, dass es einen „Jemand“ wie Antony Hegarty gibt, der die Moll-Momente des Lebens in anmutige und seinsbejahende Kompositionen übersetzt. Als alles wieder erleuchtet ist, verweilen große Teile der Fangemeinde noch in andächtigem Jubel. Der Konzertsaal leert sich langsam, es geht leise zu auf den Gängen, ruhig und bedächtig strömen die Menschen auf den Opernplatz. Die Beleuchtung erscheint künstlich und viel zu hell, und viel lieber hätte man jetzt noch Stunden in der anfänglichen Dunkelheit des Opernsaals verbracht, umgeben nur von feinen Klängen und dem überirdischen Organ Antony Hegartys. Einer sagt: „Er saß ja die ganze Zeit, wie viel kraftvoller wäre seine Stimme, wenn er mal aufstehen würde.“ Als käme es darauf an. „A busload of faith to get by?“ Eigentlich braucht es nur einen Abend mit Antony and the Johnsons.

Antony and the Johnsons

Alte Oper Frankfurt/Main
27. April 2009



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