„Carmen“

Ein Traum von Freiheit

Verführerische Frauen, die der Männerwelt den Kopf verdrehen, gibt es in der Theater- und Operngeschichte unzählige – kaum eine ist so mit folkloristischen Klischees beladen wie Carmen. Die allerorten unermüdlich wiederholten „Ohrwürmer“ von der flatterhaften Liebe mit ihren bunten Flügeln bildeten den idealen Nährboden für eine schier unerschütterliche, stets florierende Carmen-Konjunktur an den großen Häusern, die dieser Oper allerdings auch arg zu schaffen macht. Denn Bizet gaukelt den Zuhörern seiner üppigen Tongemälde mit ziemlich unlauteren Mitteln ein unwirkliches, imaginiertes akustisches Spanien vor, dessen Bild sich in genreartigen Milieukontrastierungen erschöpft. Glücklich ist, wer sich mit diesen Tonschwelgereien zufrieden zu geben vermag. Doch viel eher ist man geneigt zu sagen, dieses überaus beliebte Repertoirestück stehe sich wie kein zweites selbst im Weg.

Dagegen kämpfen die vielen neuen regietheaterbetonten Lesarten, die Carmen inzwischen erfahren hat. Sie versuchen größtenteils, die archaischen Urszenen freizulegen, die sich jenseits der Platitüden dieser musikalischen und librettistischen Genrebilder verbergen. Auf dieser Suche nach den geheimen Antriebskräften der Figuren kann man durchaus auf vielfältige und originelle Weise fündig werden. Bester Beweis dafür ist Tatjana Gürbacas Version, die am 10. Mai 2009 in der Oper Leipzig Premiere feierte. Der Regisseurin gelingt es mit viel Geschick, den Blick von der sevillaseligen, pseudorealistischen Bilderbogenromantik des Illustrationstheaters freizuräumen und die Perspektive zugunsten einer aktuellen, brisanten und couragierten Sicht auf diese Oper in ein neues Licht zu rücken.

Gürbaca versucht ihren Zuschauern die Augen zu öffnen, indem sie Carmen als einen verzweifelten Schrei nach Freiheit in den brutalen Gefangenschaften der Zivilisation zu deuten versucht. Primär vermittelt sie überzeugend jenes tief in den Figuren wohnende Gefühl von Heimatlosigkeit, das von harten Verlusterfahrungen gekennzeichnet ist, die das Leben ihnen als bleibende Wunden geschlagen hat. Dies ist ein zeitlos aktuelles Grundgefühl menschlicher Existenz, zumal in Zeiten scheinbar grenzenloser „Mobilität“.

Von der Macht bestehender Hierarchien, von Anpassungszwängen, von grausamer und blinder Brutalität, von den Nöten der Armut, von Menschenhandel, von der skrupellosen Verführung von Kindern gar, aber auch von Freiheit, vom sich bis zur Selbstvernichtung aufbäumenden Individuum und vom verlorenen Posten des Außenseiters erzählen Gürbacas Figuren ebenso imposant wie eindringlich. So wie die moralisch verkommene Soldateska in dieser Inszenierung in einer Art Knechtschaft lebt, die sich daran gewöhnt hat, im Dienst Befehlen, im Privaten rückhaltlos viehischen Trieben zu gehorchen und die überdies tief ins kriminelle Milieu verstrickt ist, so sehr ist die scheinbar verruchte Carmen aufrichtiges Gegenbild dieser Gefangenen ihrer selbst, die Gefangene machen, Gefangenschaften erzeugen und davon auch noch profitieren. So unbedingt und rückhaltlos Carmen auf verlorenem Posten um ihre Freiheit kämpft, so sehr hadert und zaudert Don José andererseits zwischen Pflicht und Neigung. Carmen sucht – um mit Novalis zu reden – das Unbedingte und findet stets nur die Dinge. Don José jedoch ist derjenige, der über diesem permanent reflektierten Dilemma allmählich den Verstand verliert und – ähnlich wie die Woyzeck-Figur – aus Verzweiflung über die Umstände der Wirklichkeit vom Wahnsinn getrieben zum Mörder wird.

Diese Konflikte gescheiterter Existenzen formt Gürbaca in starke Bilder aus dem Hier und Jetzt, die mit der postmodernen Bühnenkonstruktion Klaus Grünberg und den modernen Kostümen von Silke Willrett sinnfällig korrespondieren. Es sind insbesondere archaische Bilder verlorener Kindheiten, die das Inszenierungsteam immer wieder andeutet. Der Kasernensaal mit Spielzeugidyllen eines Plüschhundes und anderen Stofftieren im ersten Bild, der Spielplatz, die Schaukel, die Rutsche auf der Autobahnraststätte im zweiten Bild, die langen, gleichfalls archaischen Lügennasen des Pinocchio auf dem erotischen Rummelplatz samt Ringelreigen im vierten Bild, der Strampler, den Carmen in ihrer häuslichen Neubauwohnungsidylle im letzten Bild strickt, stehen unter anderem für diese Kindheitserfahrungen. Männer, Frauen, Kinder – sie alle sind heimatlos und geben sich Illusionen hin, die Gürbaca in Grün taucht, ironisch eimerweise mit Flitter, Glitzerzeug und leuchtenden Plastiksternen als billige Traumimitate enttarnt. Sie alle bleiben heimatlos, auch wenn sie sich – wie Carmen – in scheinbar bürgerliche Idyllen eines Vater-Mutter-Kind-Familienglückes flüchten. Auch wenn sie sich wie die Soldaten und die zu Menschenhändlern mutierten Schmuggler in erotische Vergnügungen oder in die voyeuristischen Gelüste eines Stierkampfes zu retten versuchen. Wie die Kinder in dieser Inszenierung bleiben sie Gefangene, die einer Freiheit hinterherjagen, die ihnen immer wieder wie ein Irrlicht entwischt. Nur Carmen wagt es wirklich, die fliehende Freiheit am Schlafittchen zu packen und festzuhalten. Dies gelingt ihr nur scheinbar für kurze Zeit, da ihr Drang nach Freiheit in Gürbacas Sicht von der Gefangenschaft des irdischen Seins in einer Neubauspießerwohnung eingeholt wird. Don José hingegen erlangt die Freiheit für einen Moment – einem bedrohlichen Augenblick mörderischen Wahnsinns, der seiner Verzweiflung folgt. Völlig „entgrenzt“ tötet er nicht nur Carmen, sondern zuvor auch seine Geliebte Micaela, weil sie seiner Leidenschaft im Wege stand und zur Vernunft mahnte.

Wie Gürbaca die Figuren zum Leben erweckt, indem sie ihnen nicht nur lebendige Bewegung, sondern eine Szene für Szene sichtbarer werdende Lebensgeschichte einverleibt, das ist hingegen ein Muster an Akkuratesse und legt von der vorzüglichen Arbeit mit den Ausführenden beredtes Zeugnis ab. Wie eine Hörspielcollage wird Gürbacas pathosbereinigte Dialogfassung in die Standmikrofone gehaucht, gesprochen, lebendig dargestellt. Mit viel Scharfsinn und logischer Motivation sind die großen Chorszenen durchgespielt, die Drive und nachvollziehbare Konsequenz besitzen. Besonders gelungen ist hierbei das letzte Bild der Zuschauermeute, die dem Stier gleich dem Torero hinterherjagt, bis hin zur imitierten La-Ola-Welle als Ikonographie einer sensationslüsternen Populärkultur.

Mit noch größerer Sensibilität und Empathie arbeitet die Regisseurin Gesten und Mimik der Protagonisten heraus. Diese Saat geht vor allem bei Neil Shicoff als Don José auf. Auch wenn der Heldentenor mit seiner Stimme gleichsam derart kraftvoll wuchtet, als wolle er mit Tönen Berge versetzen, so überzeugt er doch insbesondere als Sängerdarsteller. Hier ist er großartig. Wie überzeugend er den Spannungsdruck des aus Verzweiflung modernden verschmähten Liebhabers darstellt, das hat eine Intensität und Größe, die Respekt gebietet, zumal Shicoff sichtbar alles zu geben bereit ist. Auch die charaktervoll ausgespielte Rolle der Carmen von Ekaterina Semenchuk lebt von einem Bewusstsein einer Harmonie von szenischer und gesanglicher Darstellung. Ihr starkes, kraftvolles und angenehmes Timbre besonders in den tiefen Passagen zeugt von einer intensiven künstlerischen Durchdringung dieser Rolle. Gábor Bretz Escamillo ist eine wahre Ausgeburt an kraftstrotzendem Selbstbewusstsein. Stark ist die Szene, in der sich der sinkende und der aufblühende Stern in Carmens Liebeshimmel begegnen. Auf einer Schaukel lernen sich Don José und Escamillo kennen. Nicht nur das Retardierende, das Knisternde der Situation, auch das Schweben zwischen Illusion und Wirklichkeit wird eindrucksvoll in diesem Bild gezeigt. Das grotesk Kindhafte des männlichen Verhaltens, wenn es um Frauen geht, wird ironisch dargestellt. Diese sinnfällige Anspielung auf jene schaukelnden Töchter der Luft wie Effi Briest ist vielen Zuschauern in bleibender Erinnerung geblieben. Ähnliche Intensität erlangt in den weiteren Rollen insbesondere Ainhoa Garmendia, die das Komplexbeladene der Micaela lebhaft ausspielt und dabei durch gesangstechnische Virtuosität beeindruckt, die das Publikum am Ende zurecht mit lebhaftem Applaus belohnt.

Antonello Allemandi am Pult des Gewandhausorchesters packt die Partitur zu Beginn sehr kühn an. Zwar macht er aus Vierteln keine Sechzehntel, aber er gestaltet die Ouvertüre zu einem wahren Parforceritt in einem Tempo, das so fulminant ist, dass selbst ein spanischer Stier Mühe hätte, hinterherzukommen. Aber dies ist vielleicht nur ein äußeres Zeichen für die Vitalität und begeisterte Spielfreude, mit der Allemandi diese Oper mit Feuer und Emphase ausdirigierte, und so soll es sein. Das Gewandhausorchester lässt sich davon über weite Strecken mitreißen, auch wenn mancher mit dem Ergebnis nicht immer zufrieden sein mochte.

Das Publikum reagierte mit viel Applaus auf die musikalischen Leistungen dieses gelungenen Abends. Die Buhs für das Inszenierungsteam waren zwar nicht zu überhören, doch viele, vielleicht mehr als gedacht, waren bereit, Gürbacas Weg mitzugehen. Bei vielen überwog ein Gefühl der Freude, ein befreiendes Aufatmen, dass in Leipzig endlich eine Inszenierung vorgelegt wurde, die mit den altvertrauten Klischees aufräumte und eine Sicht auf Carmen präsentierte, die ein Stück weit wahrhaftiger, ehrlicher und deshalb auch menschlicher ist als ein nur genussvolles Schwelgen in einer Musik, der man aus bloßer Gewohnheit Respekt zollt, obwohl mit ihr eine sehr grausame, sehr enttäuschende Geschichte erzählt wird, die Gürbaca unverstellt von den Genrekontrasten des 19. Jahrhunderts für uns Heutige nachzuerzählen versucht hat. Dies ist ihr in dieser klugen Inszenierung zweifellos gelungen.

Georges Bizet: Carmen
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühne und Licht: Klaus Grünberg
Kostüme: Silke Willrett
Mit: Ekaterina Semenchuk, Neil Shicoff,
Gábor Bretz, Ainhoa Carmendia u. a.
Musikalische Leitung: Antonello Allemandi
Chor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester

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