„Kinder des Holocaust“

Auseinandersetzung mit dem Undarstellbaren

„Holooooc!“ tönt es dem Publikum entgegen. Elf junge Menschen im Alter von 14 bis 25 Jahren, ausgerüstet mit großen roten Clownsnasen, verüben einen Massenmord, der sich als pantomimisches Kunststück herausstellt: Eine Clownsdame spannt Pfeil und Bogen, verfehlt den Tell-Apfel und trifft den clownesken Nachbarn, der in Folge einer Kettenreaktion wiederum seinen Gefährten durch ein skurriles Gestenspiel niederstreckt.

Die Produktion Kinder des Holocaust, die am 17.05.2009 im Theater der Jungen Welt uraufgeführt wurde, veranschaulicht das Wagnis, Gedanken von Kindern aus dem Holocaust und von heutigen Jugendlichen zu kombinieren. Unter der Regie von Martin Kreidt entstand eine Theaterinstallation mit Schauspielern und Jugendlichen, die auf dem Buch Kinder über den Holocaust basiert.

Ein sparsam bestückter Bühnenraum. Am Horizont vier Podeste, die jeweils Stuhl, Beistelltisch und Wasserglas beherbergen sowie eine große Leinwand im Rücken der Darsteller. Im Vordergrund eine große schwarze Treppe, auf der die Jugendlichen improvisieren. Der Purismus der Ausstattung findet sich auch im Spiel der Darsteller wieder. Mit gezielt gesetzten, wirkungsvollen Gesten verleihen sie den Kinderstimmen Bühnenpräsenz.

Den Rahmen des gesamten Abends bilden die Protokollaussagen der überlebenden Kinder, die erschütternd authentisch, da nicht durch spätere Erinnerungen überformt, von den vier Schauspielern proklamiert werden. Ergänzt werden diese Zeugnisse durch Improvisationen, die aus der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Erlebnisberichten entstanden sind, und Videosequenzen, in denen die Jugendlichen über ihre Arbeit reflektieren.

Szenen des Alltags. Liebeskummer, Coming-out, Internatseinsamkeit und Zukunftsträume. Die Improvisationen leben von der gestischen Genauigkeit und den clownesken Übungen, die dem Zuschauer viele Bedeutungsräume eröffnen.

Einer fällt aus der Reihe. Ob aufgrund einer kleinen roten Clownsnase oder wegen des rebellischen Ansingens gegen den Gleichschritt. Das Individuum stellt sich der Menge oder wird von ihr aufgesogen. Die Improvisationen beeindrucken durch die Dynamik des Gruppenkörpers. So stürmen alle gehetzt über die Bühne und enden im kollektiven Bodenschrubben, als das Traktat des Lehrlings vorgetragen wird. Auch im Kampf zwischen „Gut und Böse“ wird jeder Jugendliche zum Machtinstrument. Als Ork, Magierin des Bösen oder Goblin stellen die jungen Akteure einen taktilen Zeitlupenkampf dar, der neben Tragik auch viel Komik bietet.

Die Collage aus Improvisationen und Protokollberichten ist ein Drahtseilakt zwischen tief greifender Sprachlosigkeit und verspielter Gegenwartsproblematik. Die nicht eintretende Homogenität zwischen den einzelnen Versatzstücken verweist einmal mehr auf die Undarstellbarkeit des Themas „Holocaust“, der man nicht adäquat begegnen kann und auch nicht möchte. Das Stück Kinder des Holocaust überzeugt gerade durch die vorsätzlichen Brüche, die eine Begegnung mit der Problematik erst möglich machen, da sie nicht an dem Thema selbst ansetzen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihm.

Kinder des Holocaust
Regie: Martin Kreidt
Mit: Bettina Frank, Sven Reese, Susanne Krämer, Anke Stoppa, Gösta Bornschein, 11 Jugendliche
Premiere: 17. Mai 2009, Theater der Jungen Welt

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