„Wir sind Insekt!“

Claus Guths feinsinnige Inszenierung von „Rossinis Il Barbiere di Siviglia“ erlebte an der Oper Leipzig ihre umjubelte Premiere

Die Schlagzeile einer omnipräsenten Boulevard-Zeitung verkündet unmissverständlich, was auch schon zuvor jedem einleuchtete: „Wir sind Insekt!“ Von allseits bekannten Spanienklischees ist in Claus Guths Inszenierung von Gioacchino Rossinis Il Barbiere di Siviglia, die als Übernahme vom Theater Basel und dem Staatstheater am Gärtnerplatz jetzt an der Oper Leipzig ihre Premiere erlebte, keine Spur. Stattdessen wird in Makroperspektive eine Engelstrompete gezeigt, deren Blütenduft ihre narkotisierende Wirkung auf die herumschwirrenden Kerbtiere nicht verfehlt. Hier wirbt Graf Almaviva als liebestolle, aber tumbe Hummel um die angebetete Rosina, ein frisch entpuppter Schmetterling, der grazil seine Flügel putzt. Dieser flotte Falter wird im Netz einer alten fetten Spinne gefangen gehalten – Rosinas Vormund Dr. Bartolo will sie wegen ihrer Mitgift selbst heiraten, passt als Achtbeiner jedoch nicht so recht in diesen bunt-schillernden Insekten-Mikrokosmos. Gegen die Intrigen von Bartolo und seinem Adjutanten Don Basilio, ein opportunes Wandelndes Blatt, sind die Liebenden auf die Hilfe des Barbiers Figaro angewiesen, der – wie sollte es auch anders sein – als dreiste, hyperaktive Eintagsfliege mit blondiertem Vokuhila daherkommt.

Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass ausgerechnet Insekten die Bühne bevölkern, doch die quirlig-vitale Komposition der wohl prominentesten Belcanto-Oper drängt mit ihrem ständigen Sirren und Flirren diese Assoziation nahezu auf. Mit hohem musikalischen Gespür entwickelt Claus Guth aus Rossinis Partitur seine Inszenierung und verleiht den Figuren – grandios unterstützt durch Christian Schmidts grotesk übersteigerte Kostüme – Verhaltensmuster, die penibel dem Reich der Insekten abgeschaut scheinen, den menschlichen allerdings auch gar nicht so fremd sind. Dabei ist die detailfreudige, fast choreografierte Personenregie, deren emsiges Treiben weder Stillstand noch Leerlauf kennt, über den Verdacht des Knallchargierens weit erhaben. Ob die von Fiorillo (Wieland Lemke) dirigierte Drosophila-Kapelle, Figaros fulminantes Entree samt Raupen-Lazzo, Rosinas grazile Häutung aus dem Kokon oder Almavivas Auftritt als betrunkener Soldat im Hummelkostüm: Die Sänger agieren mit enormem Körpereinsatz und einem ordentlichen Quäntchen Selbstironie, weshalb ihnen Lacher und begeisterter Jubel bei fast jeder Nummer sicher sind. Dass die Grenze von der doppelbödigen Komik zum Klamauk niemals überschritten wird, gewährleisten perfektes Timing und handwerkliche Präzision ebenso wie ein latentes Durchbrechen der Fiktionsgrenzen, beispielsweise wenn Almaviva vor seiner Kavatine einen Flamenco-Schlager schmachtet, von Figaro kongenial an der Gitarre begleitet.

Claus Guth, sonst ein Meister der Psychologisierung, meidet in seiner Barbier-Inszenierung die Versuchung, Rossinis Figuren zu individualisieren und somit ihre vermeintliche Distanz zum Zuschauer zu überbrücken. Im Gegenteil, sein Regiekniff richtet den Fokus von unverwechselbaren Charakteren und ihrem privaten Schicksal auf Motivationen, von denen die Gattung Homo sapiens auf elementarster Ebene angetrieben wird: Liebe beziehungsweise Fortpflanzung und die Befriedigung materieller Bedürfnisse, was die Insektenverfremdung subtil wie kurzweilig vermittelt.

Allerdings setzt im Finale des ersten Aktes – ähnlich einem Deus ex Machina – eine überdimensionierte Pestizid-Spraydose dem ohnehin nur kurzlebigen Wuseln und Gezirpe ein jähes Ende. Im zweiten Akt werden zwar im Hause Bartolo, das mit seinem Rastermaßstab einem Präparierbrett gleicht, die allseits bekannten Verhaltensmuster präsentiert, in ihrem Todeskampf haben Schmetterling, Fliege und Co. aber offensichtlich eine Metamorphose durchlebt, die Sphäre der Insekten wird nun mit der menschlichen konfrontiert. Tempo und Unterhaltungswert der Inszenierung tut dies keinen Abbruch, erwähnt sei nur der perfekt einstudierte Drehtür-Slapstick im Verwirrspiel um Don Basilio. Esprit und phantasievolle Poesie des ersten Aktes werden jedoch nicht ganz erreicht. Nach der Gewittermusik liegen letztendlich beide Welten in Trümmern, über den Blütenblättern schwebt gleich einem Damoklesschwert die Rückwand von Bartolos Heim. Die Figuren, die nun als theriomorpher Kurzschluss aus Mensch und Insekt auftreten, lassen sich hierdurch aber nicht von ihrem Schwänzeltanz abhalten, so dass – dank Figaros Intervention und mit gehörigem Augenzwinkern – der natürlichen Ordnung mit Rosinas und Almavivas Hochzeit wieder zu ihrem Recht verholfen wird.

Dass der Barbier nach Basel und München nicht als dritter Aufguss daherkommt, ist das Verdienst von Nina Kühner, Spielleiterin am Gärtnerplatz, die – in procura für Claus Guth – die Inszenierung mit äußerster technischer Präzision an der Oper Leipzig neu einstudiert hat. Zur Seite stand ihr dabei ein spielwütiges Ensemble, das ohne Abstriche glänzend besetzt ist. Marian Pop erweist sich in der Titelrolle als komödiantisches, stets präsentes Allroundtalent, der die Klippen seiner Partie mit baritonalem Wohlklang meist virtuos umschifft, obwohl seinem Figaro kein Moment der Ruhe vergönnt wird. Graf Almaviva ist mit José Manuel Zapata, der in dieser Partie demnächst an der New Yorker MET debütieren wird, glänzend besetzt. Sein lyrischer Tenor besticht in den Legati ebenso wie in den berüchtigten Koloraturen ohne jegliches Zeichen von Anstrengung. Im Hummelkostüm gelingt ihm – nicht ohne Selbstironie – eine Parodie auf weit verbreitete Klischees und Stereotypen seines Stimmfaches.

Als Rosina brilliert erneut Kathrin Göring, die schon der heimliche Star früherer Belcanto-Produktionen der Oper Leipzig war. Ihre Arie „Una voce poco fa“ bildet den gesanglichen Höhepunkt des Abends: Überzeugend in allen Registern gestaltet sie mit müheloser Leichtigkeit ihre Koloraturen, die fernab jeglicher Manierismen wie aus dem Moment heraus geboren scheinen. Daneben darf sie als gerade entpuppter Schmetterling endlich einmal ihr komödiantisches Talent ausspielen, ist ganz kokettes Girlie, das mal naiv, mal selbstbewusst frech mit den gerade erblühenden eigenen Reizen spielt.

In den Partien der beiden Alten überzeugen Donato di Stefano als Doktor Bartolo mit sonorem Bass und Roman Astakhov als herrlich blasierter Basilio. Für Jennifer Porto hingegen scheint Nebenrolle ein Fremdwort zu sein: Als ewig zu kurz kommende Haushälterin Berta, hier eine graue Schnecke, in deren Haus praktischerweise gleich der Staubsauger eingebaut ist (die schönste Erfindung seit Loriots „Saugbläser Heinzelmann“), präsentiert sie in der Arie „Il vecciotto cera moglie“ eine aberwitzige Wandlung zum lüsternen blonden Vamp und damit hat sie die Lacher auf ihrer Seite.

Die von Sören Eckhoff gewohnt präzise einstudierten Herren des Opernchores sind über jeden musikalischen Zweifel erhaben. Als grotesker Schwarm dickbäuchiger Fruchtfliegen, die emsig mit ihren Gliedern schaben, stellen sie darüber hinaus eindrücklich unter Beweis, dass allmählich auch wieder das enorme szenische Potential dieses Klangkörpers abgerufen wird.
In seiner ersten eigenen Einstudierung an der Oper Leipzig hält Kapellmeister Andreas Schüller die Fäden zwischen Bühne und Graben mit präzisem Dirigat vorbildlich zusammen. Schüller verpflichtet das Gewandhausorchester zu äußerster Transparenz, was den feinen Details in Rossinis Partitur ebenso wie den Sängern zugute kommt. Aber auch in Ouvertüre und Gewittermusik schlägt er nicht über die Stränge und vertraut der behutsamen Entwicklung mehr als dem plakativen Effekt.

Das Premierenpublikum wartete gar nicht erst ab, bis Schüller und das Gewandhausorchester mit ihre Arbeit fertig waren, sondern verlieh meist gleich in die Musik hinein seiner Begeisterung Ausdruck, die sich im Schlussapplaus zu langanhaltendem, frenetischem Jubel für alle Beteiligten steigerte. Claus Guths doppelbödig-subtile Barbier-Inszenierung beendet fulminant den Premierenreigen einer an Höhepunkten nicht armen Spielzeit: Sieht man einmal von den (Protest-)Stürmen ab, die der Holländer nach sich zog, kamen überwiegend ambitionierte Produktionen heraus, die beiden Teilen des Wortes Musiktheater auf hohem Niveau gerecht wurden und – allen Unkenrufen zum Trotz – eine ganze Bandbreite verschiedener Regiehandschriften präsentierten. Zugute kam dies nicht nur der öffentlichen Wahrnehmung des Hauses, sondern auch der dringend notwendigen Erneuerung des Repertoires der Oper Leipzig, wozu der Barbiere di Siviglia einen sicherlich zugkräftigen Beitrag leisten wird. Aber davon sollte man sich am Besten selbst ein Urteil bilden, die weiteren Vorstellungen in dieser Spielzeit sind am 12., 16., 19., 21. und 27. Juni.

Gioacchino Rossini: Il Barbiere di Siviglia

Musikalische Leitung: Andreas Schüller
Inszenierung: Claus Guth

6. Juni 2009, Opernhaus

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