Wie jeder sich selbst und seine Rolle im Leben zu finden sucht

Beobachtungen von der abstrusen Seite des Lebens: der Film „Erzähl mir was vom Regen“

Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen. Er findet seinen Platz immer inmitten anderer. Wie er sich selbst sieht und glaubt gesehen zu werden, sind fundamentale individuelle Fragen des Einzelnen in der Gemeinschaft. Die Antworten können je nach Standpunkt des Betrachters weit voneinander abweichen. Die zwischenhumaniden Beziehungen, in denen Menschen agieren oder reagieren, in denen sie sich befinden und sich nicht selten gefangen fühlen, geben genug Stoff für den nachdenklichen und zugleich komischen, weil konsequent selbstironischen Film von Agnés Jaoui. Die französische Regisseurin, die auch eine der Hauptrollen übernommen hat, zeigt nach Filmen wie Lust auf Anderes und Schau mich an einmal mehr ihren präzisen Beobachtungssinn für die abstrusen Seiten des Lebens, die man entweder aus eigener Erfahrung oder als unangenehm berührter, unfreiwilliger Zuschauer einer fremden, vielleicht demütigenden Szene erleben musste. Wenn die unterschiedlichen Erwartungen, die aneinander gestellt werden und daraus folgen, dass jeder bestrebt ist, seine eigene Rolle im Leben zu finden und sich zwischen den anderen zu positionieren, erst einmal aufeinander treffen, ist Verwirrung vorprogrammiert.

Heraus kommt dabei eine zutiefst menschliche Studie über Schein und Sein aller Beteiligten, sei es die Politikerin, der Filmemacher, der Geliebter, die Schwester, der Ehemann, der Hotelportier und alle anderen Zuordnungen, mit denen sich ein Mensch identifizieren will und muss. Im Durcheinander der wechselseitigen Annahmen und der eigenen Bedürfnisse handeln Agatha, Florence, Michel, Karim, Mimouna und die anderen mal mehr und mal weniger erfolgreich. So gerät Agatha als professionell Politiktreibende an zwei halbwegs unfähige Dokumentarfilmer, so dass am Schluss scheinbar keine ordentlichen Aufnahmen zustande kommen, aber dafür viel übers Leben gelernt wurde.

Die Stärke des Films liegt dabei in der Glaubwürdigkeit der Charaktere: Mit allen Figuren kann Sympathie empfunden werden, was das Netz von Verstrickungen, Missverständnissen und Unannehmlichkeiten plausibel und fast ein bisschen wie aus dem Leben geschnitten wirken lässt. Es spiegelt geradezu die teilweise nicht zu überbrückenden Konflikte wieder, die zwangsläufig entstehen, sobald Menschen aufeinander treffen und in Abhängigkeit voneinander handeln. Es geht im Film wie im Leben oft selbst um Vorurteile, Verantwortung und das Abenteuer, sich selbst und andere wirklich zu sehen, ja sehen zu wollen. Aus diesem Versuch heraus wachsen alle Charaktere über die anderthalb Stunden des Films. Vor allem die drei Hauptfiguren des Films Agatha, Karim und Michel sind am Ende nicht dieselben wie am Anfang. Sie haben etwas über ihre Mitmenschen aber in besonderem Maße über sich selbst dazugelernt, was – so scheint es – für ihr weiteres Leben von großer Hilfe und Wichtigkeit sein kann, sollten sie sich dessen bewusst werden und nicht in Rücksichtslosigkeit und Selbstmitleid zurück verfallen. Der Film erinnert nicht nur in dieser Hinsicht stark an die dramatische Struktur klassischer Theaterstücke, in der nach dem Höhepunkt die Figuren eine Wandlung vollziehen und schließlich reifer scheinen als zuvor, sondern ist die Nähe zur Theaterbühne auch dem engen Personenkreises, den wenigen Ortswechseln und den sparsamen Schnitten geschuldet.

Die Geschichte dreht sich fast ausschließlich um das Haus der Kindheit Agathe Villanovas, in das sie für zehn Tage zurückkehrt, um zusammen mit der Schwester Florence die Hinterlassenschaft der verstorbenen Mutter auszurangieren. Um diesen Ort kreisen auch alle anderen Charaktere: Karim, gespielt von Jamel Debbouze, der hier als Kind einer aus Algerien eingewanderten Haushälterin aufwuchs und jetzt zusammen mit Michel, dem Geliebten der verheirateten Schwester Agathas, einen Film über erfolgreiche Frauen, nämlich der angehenden Politikerin Agatha Villanova drehen will. Schon an dieser knappen Beschreibung wird die Verstrickung der Personen deutlich, die durch das Gespür für feinsinnige Dialoge der Drehbuchautoren Agnés Jaoui und Jean-Pierre Bacri und die überzeugenden Schauspieler zusammengehalten wird. Darüber hinaus hat der Film auch durchaus eine politische Motivation. So wird einerseits der Graben zwischen den Politikmachenden und denen, die die Ergebnisse dessen empfangen dürfen immer wieder thematisiert. Andererseits spielen der Umgang mit dem Feminismus und die ihm allzeit entgegengebrachten Vorbehalte eine große Rolle. Nicht zuletzt geht es auch um den unterschwelligen Rassismus, der in Frankreich im Zusammenhang mit seiner Kolonialgeschichte zweifellos existiert, aber leider gern verdrängt wird.

Auf ernste und doch immer wieder auch selbstironische Art setzt sich der Film mit kleinen und großen Problemen des Daseins auseinander. Die Konflikte resultieren fast immer daraus, dass jeder bestrebt ist, sich selbst und so etwas wie sein eigenes Glück zu finden. Dabei muss es zu Zusammenstößen mit den Übrigen kommen, die ebenso ihre eigenen verständlichen Ansprüche haben. Der Film ist eine Ermutigung an die Öffnung des Einzelnen für andere Menschen, an den Einklang von Rücksicht und Selbstachtung und gegen die verbreitete Annahme, dass jeder sich selbst als das größte Opfer, den am ungerechtesten behandelten Menschen ansieht. Dies alles zusammen macht aus Erzähl mir vom Regen einen klugen, interessanten, rührenden und nicht zuletzt sehr unterhaltsamen, kurz und gut: einen sehr sehenswerten Film.

Erzähl mir was vom Regen

FR 2008, 98 min, R: Agnes Jaoui, B: Jean-Pierre Bacri, Agnes Jaoui, D: Jean-Pierre Bacri, Jamel Debbouze, Agn?s Jaoui, Pascale Arbillot, Guillaume De Tonquedec

Kinostart: 30. Juli 2009

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