Streiflicht der Vergangenheit

Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2009, 1. Platz: Rezension über die Ausstellung „Umland“ von Katinka Bock im Projekt Kaufhaus Joske

Die Geschichte hinterlässt überall Spuren. In den Köpfen, in den Städten, in den Generationskonflikten. Und, wie im ehemaligen Kaufhaus Joske in der Karl-Heine-Straße, in Form von grau-weißen Streifen an der Fassade. An insgesamt drei Stellen im gesamten Gebäudekomplex haben Cindy Schmiedichen, Rebecca Wilton, Till Gathmann und Fabian Reimann den alten Putz abgetragen und mit Farbe die Vergangenheit des jüdischen Kaufhauses wiederaufleben lassen. Die Familie Joske eröffnete 1904 in den Häusern der Karl-Heine-Straße 43/45 und in der Walther-Heinze-Straße 3 das erste jüdische Kaufhaus im Leipziger Westen, ein über dreißig Jahre florierendes und expandierendes Unternehmen. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten trieben Boykotte das Geschäft in den Ruin, heute ist es ein Wohnhaus, in dem nur die Schriftzüge im Hausflur an dessen Vergangenheit erinnern.

Letztes Jahr kam alles zusammen: Die verblassten, aber unübersehbaren Schriftzüge, eine Fotografie des Gebäudes, die die vier freien Künstler während einer Ausstellung im stadtgeschichtlichen Museum sahen und auf der sie die charakteristischen Streifen an der Fassade entdeckten, dann die Recherchen in Archiven, um die Geschichte des Hauses zu erforschen, und schließlich die Idee, diese in Form von Kunst aufzuarbeiten. Wie vermittelt man einen Ort, wie rekonstruiert man Geschichte? Im Sommer 2008 eröffneten die Vier das „Projekt Kaufhaus Joske“, seitdem fungiert das Haus nicht nur als Wohn-, sondern auch als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum.

Für 2009 sind neben drei Ausstellungen von Katinka Bock (seit 29. Mai), Yuki Higashino (Eröffnung am 16. Juli, 19 Uhr) und einer Performance von Jörg Herold (September), die alle eigens für diesen Ort konzipiert wurden und sich mit diesem auseinandersetzen, zudem verschiedene Vorträge, Filmvorführungen und ein Konzert geplant. Für die erste Ausstellung „Umland“ im Frühjahr 2009 konnten Cindy, Rebecca, Till und Fabian Katinka Bock engagieren, die in Berlin Weißensee studierte und gegenwärtig in Paris lebt.

Die 31-jährige Künstlerin greift in ihren Arbeiten oft Beobachtungen aus Raumsituationen oder sozialen Situationen auf, die sie dann künstlerisch umsetzt. Im Innenhof des Kaufhauses Joske hat sie zum Beispiel einen Tisch installiert, der, auf Sprungfedern im Holzboden eingelassen, bei jeder Berührung wackelt. Im Backhaus, dem ältesten Gebäude im Komplex, erinnert eine Glühbirne an frühere, lebhaftere Zeiten. Ebenso wie der Verdunstungsmechanismus aus zwei Glasgefäßen, der sich je nach Wetterlage unterschiedlich positioniert, verarbeiten ihre Installationen auf hintergründige Weise das Verhältnis zwischen Kunst und Zeit, Vergangenheit und Gegenwart. „Die kleinen Irritationen, die sie in ihre Arbeiten einbringt, sollen selbstverständliche Dinge ins Wanken bringen“, erklärt der 31-jährige Till, der auch als Hofgestalter und Grafiker arbeitet. „Sie möchte Gegenstände und Wahrnehmung ins Wanken zu bringen und in die Architektur eingreifen“, ergänzt Rebecca. Vor allem, indem sie Linien durch das Gebäude zieht, Strecken vermisst, in Frage stellt und Zusammenhänge zieht, wo keine sind, arbeitet Katinka Bock die Entstehungsgeschichte des Kaufhauses auf, dessen Fassade der Architekt Wilhelm Haller entworfen hat.

Neben einem Bleistift, der, an der Unterseite der Kellertür befestigt, bei jedem Öffnen und Schließen den Strich auf dem Fußboden intensiviert, findet der aufmerksame Betrachter im Treppenhaus zudem eine filigrane Drahtschnur, die von einem Magneten aus dem Lot gebracht wird. „Diese Art von Kunst muss man schauen, sie schreit nicht vordergründig nach Aufmerksamkeit“, meint Cindy. Ablenken, umnutzen und umdrehen, Werkzeuge, die zur Desorientierung umfunktioniert werden, so könne man Bocks Arbeiten am ehesten beschreiben, ergänzt Rebecca. Die Schlagschnur, die sonst Maurern als Hilfsmittel zur Markierung von Linie dient, verschwindet vom Hofboden ins Nirgendwo des Dachbodens. Als „sinnliche kleine Eingriffe“ bezeichnet Rebecca diese Kunst, die „aus kleinen Dingen eine großen Assoziationsraum aufmacht“.

Anlässlich der jüdischen Woche gibt es neben zwei Führungen durch die Ausstellung (am 26. und 28. Juni um jeweils 15 Uhr) außerdem am 25. Juni um 20 Uhr einen Vortrag von Fabian Reimann über den Künstler Gustav Metzger zu hören. Dieser beschäftigt sich ebenfalls mit dem Verhältnis von Kunst und Geschichte und der Vergänglichkeit und Selbstzerstörung von Kunst. „Die Künstler sollen nicht auf die Arbeiten der vorangegangen Künstler reagieren, sondern auf das Haus“, erläutert Cindy. Um Spuren zu hinterlassen, im Gebäude und in den Köpfen.Caroline Baetge

Umland

Ausstellung von Katinka Bock

Projekt Kaufhaus Joske, Karl-Heine-Straße 43, bis 10. Juli

www.projektkaufhausjoske.de

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.