„King Lear” als Endspiel

When Majesty plays folly – Peter Konwitschny inszeniert am Grazer Schauspielhaus Shakespeares King Lear

Mechanisch winkend verkündet König Lear, dass er des Regierens überdrüssig ist und sein Reich unter seinen Töchtern aufteilen will, gemessen an ihren Zuneigungsbekundungen. Kaum gesagt, stürzt er von einem Balkon hinab in die Tiefe. Doch der leblose Körper erweist sich als Puppe, der Sturz als makabrer Scherz, inszeniert von Lear selbst, der sich mit kindischer Freude hierüber amüsiert. Der König ist tot, es lebe der König? Mit jeder Schmeichelei, die er den älteren Töchtern Goneril und Regan entlockt, fährt Lear mit einer Hebebühne ein Stückchen weiter in die Höhe, sich selbst zum Denkmal erhebend. Einzig die Jüngste, Cordelia, widersetzt sich aus aufrichtiger Liebe zu ihrem Vater diesem Spiel und wird daraufhin vom Hof verbannt. Den Protest des Grafen Kent quittiert der König mit einem ostentativen Furz, um gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Peter Konwitschny, Chefregisseur der Oper Leipzig, ist nach vielen Jahren wieder einmal zum Sprechtheater zurückgekehrt und inszeniert Shakespeares King Lear am Grazer Schauspielhaus als epochales Endspiel, als Werteverfall einer Kultur. Mag Lears Abdankung anfangs noch den Anbruch eines neuen Zeitalters suggerieren, so trügt der Schein von Anbeginn – jedes Fünkchen Hoffnung, jeder utopische Gedanke erlischt bereits im Keim. Speerspitze dieses degenerierenden Mikrokosmos ist, wie sollte es auch anders sein, der König selbst. Lear, der sich von seinem Narren sagen lassen muss, dass er alt ward, bevor er weise werden konnte, will zwar die Last des Herrschens abgeben, nicht aber die damit verbundenen Privilegien. Burgschauspieler Udo Samel, der als einziger Gast in der Titelrolle zu erleben ist, gibt einen vom Greisenhaften weit entfernten Lear, der offensichtlich selbst darum weiß, dass er Verantwortung und Würde seiner Sozialrolle nicht gerecht werden kann. Irre kichernd erscheint er als kindisch-alberner König mit Karnevalskrone und Jahrmarktstrompete. Offenbar aus Angst vor seiner eigenen Endlichkeit umgibt er sich mit einer jugendlichen Spaßgesellschaft, die pöbelnd durch die Lande zieht. Dass ihn Gonerill (Martina Stilp) und Regan (Jaschka Lämmel) nicht beherbergen und seine Gefolgschaft verkleinern wollen, mag man ihnen nicht so recht verübeln. Doch auch sie sind nur von niederen Interessen und Trieben gesteuert, prosten sich von ihren Logenplätzen aus zu, wenn Lears anfangs gespielte Unzurechnungsfähigkeit in Wahn umkippt.

Den Verfall ethischer Werte und Normen inszeniert Konwitschny, unterstützt durch seine Ausstatter Jörg Koßdorff und Michaela Mayer-Michnay, als Reise durch die Zeiten: Beginnend mit Anleihen an die Renaissance, der Utopie vom neuen Menschen, wird eine Art Totaltheater bespielt, das nicht nur in seiner Schlichtheit an die Shakespeare-Bühne erinnert. Ein Teil des Publikums findet im Halbrund auf der Hinterbühne Platz, durchs Parkett führt ein Steg samt Treppe zum ersten Rang, auch einige der Logen dienen als Handlungsort. Die Fiktionsgrenzen werden hier immer wieder durchbrochen, etwa wenn Glosters illegitimer Sohn Edmund im Namen eines Mobilfunknetzbetreibers darum bittet, die Handys abzuschalten, oder er nach seiner Reflexion über die Überlegenheit der Natur gegenüber den Konventionen der Kultur die Zuschauer auffordert, seinen durch Hantelübungen gestählten Körper anzufassen.

Gerade der erste Teil erhält durch perfektes Timing eine fürs Sprechtheater seltene Musikalität und es gelingt durch bewusst eingesetzte burleske Elemente eine Gradwanderung, welche die Fallhöhe zur Tragödie nur erhöht. Das Bühnenkonzept nutzt Konwitschny für seine außerordentliche Begabung, die zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Figuren herauszuarbeiten, beispielsweise in der Briefszene zwischen Goneril und Regan, die sich durch den ganzen Theaterraum erstreckt, während bei Lear die Anagnorisis einsetzt. Dass dabei auf der nach allen vier Seiten offenen Bühne nicht jeder Handlungsort einsehbar ist (auch Shakespeare hatte nur in drei Richtungen zu spielen), führt zumindest bei jenen, die auf den Podesten der Hinterbühne Platz gefunden haben, zu vereinzelten Spannungseinbrüchen, wiegt aber im Gesamtkonzept nicht weiter schwer.

Schließlich gipfelt alles in orgiastischer (Selbst-)Zerstörung. Mit letzter Kraft reißt der wahnsinnige Lear die Sitze der ersten Parkettreihe aus ihrer Verankerung (die Zuschauer werden eiligst vom Grafen Kent evakuiert) und hält über die abwesenden Töchter Gericht, indem er wie blutrünstig Melonen zerfleischt. Glosters Blendung wird hingegen für Regan und Cornwall zum lustvollen Spektakel. Während sie mit ihren Stöckelschuhen die auf dem Boden kullernden Augäpfel zertritt, entgeht ihr der Todeskampf des Gatten. Lang währt ihre Trauer aber ohnehin nicht, da mit Edmund und Oswald bereits Ersatz parat steht.

Nach der Pause wird hingegen eine sinnlich entfremdete Postmoderne gezeigt, deren Verlust kultureller Werte durch die Überspielung mit medialen Illusionen kompensiert werden soll. Eingangs wird Gloster ein zweites Mal geblendet, allerdings von einem aus dem Schnürboden herabgelassenen technischen Apparat. Die Stimmen zum Verhör kommen vom Tonband aus dem Off, er selbst ist isoliert auf leerer Bühne.

Die übersteigerten Renaissance-Kostüme sind dunklen Business-Anzügen gewichen, der Steg durch den Zuschauerraum ist verschwunden. Das Publikum sieht sich nur mehr einem schlichten Guckkasten ausgesetzt, auf deren Rückwände in bewusst halbherziger Fernsehästhetik die Handlungsorte projiziert werden: So erinnert der Landsitz mit Limousine vor der Tür an eine Vorabend-Soap, Cordelias Heerlager an einen zweitklassigen Kriegsfilm. Aber auch diese Illusion schwindet, statt der Landschaft ist in greller Schrift nur noch „Heide“ zu lesen. Der König selbst irrt von sich selbst entfremdet durch die Lande, von seiner Identität kündet nur noch das um seinen Hals hängende Pappschild „I am Lear“.

Dieser Bruch ist in seiner dramaturgischen Konzeption schlüssig und konsequent, kann aber auch nicht ganz verhehlen, dass die Inszenierung gegenüber dem ersten Teil ein wenig an Spielfreude und Tempo eingebüßt hat. Aber auch hier gelingen Konwitschny und seinem Ensemble viele berückende Bilder, etwa Glosters gescheiterter Suizid-Versuch als Sprung von einem Stuhl oder Edgars Fürsorge für den blinden Vater, die nicht ohne Spott gegenüber dem ist, der ihn einst verstoßen hatte. Das Wiedersehen zwischen Lear und Cordelia (Sophie Hottinger) ist hingegen medial gedoppelt: Während in eingespielten Filmsequenzen eine rührselige Versöhnung im Lazarett vorgegaukelt wird, herrscht zwischen den realen Figuren eher ratlose Distanz – eine Szene, die gerade in dieser Dialektik nachwirkt. Nach Lears Bitte, man möge allen Narren verzeihen, werden auch die Rückwände hochgezogen. Die Schauspieler setzen sich abgeschminkt und in Privatkleidung auf das Podest, der Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet. Von Shakespeares Versen bleiben nur noch Fragmente übrig, die von einer tiefen Leere und Selbstentfremdung zeugen, während sich die Figuren nach und nach auflösen. Letztendlich sackt – wie vor ihm schon seine Töchter – auch Lear unvermittelt zusammen. Die Überlebenden scheinen im Kampf aller gegen alle, der keinen Sieger kennt, den Untergang nicht wahrzunehmen.

Das Publikum dankt nach gut viereinhalb Stunden für einen in seiner Deutung als Endspiel konsequenten King Lear mit kräftigem, für eine Repertoire-Aufführung langanhaltendem Applaus. Peter Konwitschnys Inszenierung bescherte dem Grazer Schauspielhaus einen außerordentlichen, auch überregional wahrgenommenen Erfolg und spornte das Ensemble zu Höchstleistungen an, aus dem neben Udo Samel in der Titelrolle vor allem Götz Argus als Gloster sowie Jan Thürmer und Dominik Maringer als seine opponierenden Söhne Edmund und Edgar herausragen.

William Shakespeare: King Lear

Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühne: Jörg Koßdorf
Kostüme: Michaela Mayer-Michnay
Dramaturgie: Regina Guhl & Marion Hirte
Video: fettFilm

Premiere: 24. Februar 2009, Schauspielhaus Graz


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