Michiel Dijkema inszeniert Rossinis „Turco in Italia“ als spielfreudige Suche nach dem fiktionalen Horizont
Es geht um eine Frau, ihren Ehemann, ihren ehemaligen Liebhaber, ihren neuen Liebhaber, dessen Ex-Geliebte und deren erfolglosen Verehrer: Ein Plot, der sich problemlos als Episode einer Daily Soap erzählen ließe. Michiel Dijkema verzichtet in seiner Inszenierung an der Oper Leipzig aber auf die naheliegende Aktualisierung und begibt sich stattdessen auf die Suche nach einer Erzählsprache, die Rossinis Figuren jenseits gewollter Psychologisierung agieren lässt.
Gekonnt fallen die Erzählebenen ineinander – der Dichter, der ein Libretto schreiben soll, aber keine Idee hat, und die Figuren, die nach und nach aus seiner Vorstellung entspringen und mit ihm interagieren, bis sie sich ihm schließlich widersetzen – ihn um mehr Text bitten, ihm Prügel androhen oder ihn um Rat fragen. Pirandellos sechs Personen suchen einen Autor, aber auch die Commedia dell’Arte und ihr Spiel mit Fiktionsschranken fallen einem dazu ein: Beide Anhaltspunkte finden sich auch im klug komponierten Programmheft wieder.
Am Tisch träumt der Dichter von möglichen Handlungen, hinter ihm eine riesige Maschine, ein Miniaturtheater der Wörter, auf dem – von Hand bemalt und betrieben – das Libretto des Abends wortwörtlich heruntergekurbelt wird. Aus den Stoffbahnen brechen die Figuren hervor, um wenig später wieder in ihnen zu verschwinden oder um aufzuspringen auf die Maschine und, der Drehbühne sei Dank, sie zu durchwandern, während der Text weiterrollt.
Das Spiel aber ist angenehm wenig textfokussiert. Groteske, halbfertige Gestalten -überformte Leiber mit baumelnden primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, wirrem Haarfilz und Gesichtsmasken – lassen die Ideen des Dichters provisorisch Gestalt annehmen, bis die rettende Idee erscheint und buchstäblich vom Himmel fällt: Große Säcke plumpsen aus dem Schnürboden auf die Bühne. Ihnen entschlüpfen die Figuren der Handlung, die sich mal innerhalb der Figuren, mal unter Einbezug des Dichters, einzelner Orchestermitglieder oder gar der Zuschauer vollzieht, während im Hintergrund die große Maschine den Text von sich gibt.
Das sorgt für ein einfaches Mitlesen der Untertitel ohne Nackenstarre, hat seine stärksten Momente aber eindeutig dann, wenn die neutrale Ebene verlassen wird und plötzlich Dickgedrucktes sich mit rasch Überkurbeltem ablöst oder wenn die Protagonisten sich gar gegen den eigenen Text verhalten.
Dijkema umschifft die chauvinistischen Klippen des Textes, die so harmlos dahergeplappert kommen, indem er sie aufzeigt, aber im selben Zug aus der Fiktionsebene hinauszieht – so spaziert passend zur Rede von „den Türken“ ein Neonazi auf die Bühne, der gegen die „Scheiß-Türkenoper“ polemisiert und umgehend vom Dichter darauf hingewiesen wird, dass man hier kein politisches Theater mache – non facciamo teatro politico – und er es doch mal am Centraltheater versuchen solle mit der Nummer. Lachender Beifall im Publikum. Der zweite und dritte Auftritt desselben Neonazis wirkt dann schon eher bemüht als witzig und die zwischenzeitlich aufbrandende Debatte mit dem Zuschauerraum über das von der Sopranistin monierte „pseudointellektuelle Regietheater“ wirkt dann doch ein bisschen wie eben jenes.
Sonst aber halten sich Dijkema und seine Pantomimen an die Mittel der Situationskomik, die weder Entschuldigung noch Begründung brauchen und gerade deswegen gut funktionieren, kräftig unterstützt von den phantasievollen Kostümen von Claudia Damm. Selim, der Exot auf Brautschau in Italien, tritt nie ohne Teppich und überdimensionale Wasserpfeife auf und als der hintergangene Ehemann zur selben Kostümierung greift und nur mit einer ganz kleinen Wasserpfeife aufwarten kann, haben die Lacher die Textebene längst verlassen. Je direkter und absurder die Komik, desto besser funktioniert der Abend jenseits aller subjektkonstituierenden Psychologisierung.
Auch die finale Zähmung der widerspenstigen Gattin wird durch einen minutenlangen Heulanfall ins Absurde verlagert. Der Rundhorizont fällt in sich zusammen und in der Mitte stehen drei palavernde Italiener, die überlegen, wie es weitergehen soll und zwischen deren Gesten die Haarzotteln und ausgestopften Hinterteile der Pantomimen eigentlich gar nicht mehr notwendig sind, um an die Commedia dell’Arte zu denken.
Auch die Körperarbeit der Pantomimen (Meylem Gonzáles, Sylvia Metz, Sabine Schaft, Ines Vieweger) verpufft streckenweise unter den ihnen übergezogenen Leibern, die Gestik und Bewegung überschatten – ein paar konventionelle Tableaus in den Ensembles fallen auf diese Weise nicht weiter auf, weil die Kostüme das Erzählen übernehmen. Auch das Laufen mit der Drehbühne, zwischen den sich drehenden Rädern der Librettomaschine und der Rossini-Mechanik kleinteiliger, anschwellender Wiederholungen aus dem Orchester, stört in diesem Zusammenhang nicht. Besonders originell ist es allerdings auch nicht. An der Maschine führt kein Weg vorbei; sie ist raumgreifend Spiel-Platz und Konzept in einem, was Blickwinkel eröffnet, aber auch verschließt. Als Parodie auf den Opernbetrieb funktioniert sie nur bedingt (sind Übertitel wirklich das größte gemeinsame Vielfache im heutigen Opernbetrieb?) und die Textebene macht nur dann wirklich Sinn, wenn sie auch ausgeklammert werden kann.
Andreas Schüller, der schon in der letzten Spielzeit mit dem ungleich populäreren Barbier Rossinis Musikalität unter die Lupe genommen hat, spürt jenseits der üblichen Tschingderassa-Crescendi den Brüchen in der Partitur nach und lässt zwischendurch Kantilenen aufblühen, die daran erinnern, dass Rossini neben Donizetti und Bellini vor allem auch als Belcanto-Komponist zu gelten hat, und in der Verzweiflungsszene Fiorillas schließlich klingt es geradezu mozartesk aus dem Graben.
Dies ist auch die Szene, in der Viktorija Kaminskaites Fiorilla am meisten überzeugen kann – hier hat sie die Chance, neben Koloratur auch Kantilene zu gestalten, und besticht durch ihren auch in Mitte und Tiefe ausgeglichenen und sicher geführten Sopran, der bereits in der letzten Saison als Priesterin in Aida aufhorchen ließ. Ihr zur Seite als gehörnter Ehemann ein souveräner Paolo Rumetz mit präziser Diktion und ansteckender Spielfreude. Sonor als sein türkischer Konkurrent Selim Giovanni Furlanetto mit differenzierter Tiefe, ergänzt von einem unermüdlichem Giulio Mastrototaro als von seinen Figuren herausgeforderter Dichter, der einem Flirt mit seiner eigenen Primadonna genauso wenig abgeneigt ist wie einer Wasserpfeife.
Ein Kabinettstück liefert Timothy Fallon als kanarienvogelgelber Ex-Liebhaber Don Narciso ab, indem er in den äußerst diffizilen Arien gleichzeitig den Rossini-Tenor und dessen Parodie gibt. Der dunkel timbrierte, in seinen satten Farben ans Altfach erinnernde Mezzo von Claudia Huckle (Zaida) macht neugierig auf weitaus mehr. Den Showstopper schließlich liefert Dan Karlströms Abazar, der es zwar noch nicht einmal zum abgelegten Liebhaber schafft, aber dann, als der Dichter mal kurz wegschaut, so richtig vom Leder ziehen darf.
Am Ende warmer und begeisterter Applaus ohne Buhrufe für einen spieltechnisch bemerkenswerten und konzeptionell interessanten Rossini-Abend.
Gioacchino Rossini: Il Turco in Italia
Musikalische Leitung: Andreas Schüller
Inszenierung & Bühne: Michiel Dijkema
Kostüme: Claudia Damm
Chöre: Stefan Bilz
Oper Leipzig
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