Warum darf Salome nicht sterben?

Das Geheimnis der Liebe ist größer als das des Todes

Amsterdam im November 2009 – in vielen Straßen und Vierteln präsentiert sich die abendländische Gesellschaft in einem letalen Endstadium des kapitalistischen Verwertungs- und Ausbeutungswahnsinns. Viele zivilisatorische Hüllen sind gefallen: Um die tausend Huren posieren allabendlich hinter rot beleuchteten französischen Fenstern. „Warum haben die Frauen denn einen Bikini an?“, fragen Kinder. Die Frauen sind eingepfercht in winzigen Verschlägen, ab und an bekommen sie Besuch von einem meist englischen Touristen, der sich unter anerkennendem Gejohle aus der Rotte seiner Kumpane löst.

Die Natur scheint aufgezehrt angesichts von Straßenzeilen, wo gleich mehrere Fast-Food-Ketten nebeneinander residieren, ein paar Häuser weiter gibt es die Hot Dogs auch schon aus der Maschine. Der Gestank von altem Frittenöl wechselt sich ab mit dem süßlichen Geruch, der aus den Coffee-Shops strömt. Eine Kategorie schlimmer noch die dunkleren Gassen, wo sich die nächtlichen Gestalten ihres Bieres entleeren.

Ob Peter Konwitschnys Inszenierung von Salome in Berlin, Leipzig oder Tokyo anders ausgefallen wäre, weiß man nicht, aber die Vermutung liegt nahe, dass Konwitschnys Salome in Amsterdam zu Amsterdam eine spezielle Beziehung hat. Die Bühne zeigt einen Bunker, Schuhschachtel gewordene Ausweglosigkeit – Endstation. Dreckige Wände reflektieren ein gespenstisches Licht, die geborstenen Oberlichter lassen verzweifelte Ausbruchsversuche vermuten. Die Entourage um König Herodes hält an einer langen Tafel ihr böses Abendmahl ab. Herodes setzt sich alle zehn Minuten einen ungelenken Schuss. Herodias, seine Gattin, lässt es sich entweder von einem unterm Tisch oder von mehreren auf dem Tisch besorgen. Die Juden schicken sich mit rollenden Augen und rutschenden Hosen zu einer Massenvergewaltigung des toten Narraboth an. Peter Konwitschny arbeitet mit Bildern, die vielerorts das etablierte Musiktheaterpublikum vergällt haben. Warum funktioniert das hier und heute in Amsterdam, weshalb nimmt man es dem Regisseur nicht übel, mit solch drastischen Bildern konfrontiert zu werden? Peter Konwitschny arbeitet (wie stets) mit den alten Requisiten der Regie: Idee, Fantastik und Erregung. Und er entwickelt seine Sicht/seine Idee nicht nur aus dem Text, sondern auch und vor allem aus dem Libretto. Da muss man freilich schon genau hinhören, um aus Oscar Wildes Spiel um die flatterhafte Liebe einer Kindfrau eine Liebesgeschichte und partnerschaftliche Begegnung zwischen Salome und Jochanaan zu hören!

Jochanaan sitzt von Anfang an mit an Herodes Tafel, eine Papiertüte auf dem Kopf. Salomes Rufe nach ihm haben durch diese Präsenz von Anfang eine sehr reale Dimension und Unbedingtheit. Zu Beginn noch als verwöhntes Girlie verwandelt sie sich überzeugend zur ernsthaft liebenden Frau. Wie sich dabei gerade im Schleiertanz Salomes Wille nach Jochanaan als einzigem vorstellbaren Mann und Partner manifestiert, ist ein kribbelnder Höhepunkt der Inszenierung: Die Bühne ist in irreal gelbes Licht getaucht, Salome hypnotisiert ihren verruchten Familienhaufen und lässt dann die Marionetten nach ihrem Willen tanzen. Dann will sie raus, wirft sich gegen die Angst machenden Wände und als diese nicht weichen, sucht sie Schutz bei Jochanaan. Jetzt hat Peter Konwitschny uns soweit zu glauben und zu fühlen, dass in Strauss´ Salome auch eine Ebene versteckt ist, die in eine erlösende Zukunft gerichtet ist. Als Erlösungsritual ist dann folgerichtig der Schluss der Oper gestaltet: Jochanaan sitzt stumm auf der Bühne, sein blutiges Konterfei entschwebt in den Schnürboden, Herodes‘ Tafel entschwindet langsam im Bühnenhintergrund. Salome kann jetzt ganz allein reden und singen: „Hast du Angst vor mir Jochanaan, dass du mich nicht ansiehst?“ Jochanaan sieht zu ihr auf und nickt – ein berührendes Detail in Konwitschnys erregender Suche nach anderen Bedeutungsebenen.

Sängerisch hätte man sich mehr Präsenz gewünscht, auch Sprachverständlichkeit, die immer wieder den genialen Zusammenhang zum Libretto und der Inszenierung hätte herstellen können. Stefan Soltesz agiert mit den Nederlands Philharmonisch Orkest so, als hätte es nie eine andere Sicht auf Salome als die von Konwitschny gegeben. Keine polternde Archaik, sondern spannungsreiche Annäherung im Schatten der Bühne, erst gegen Ende geht man an die Grenzen von Strauss´ farbigen Klangkaskaden.

Den letzten Satz der Oper „Man töte dieses Weib!“ kann Herodes heute nicht sprechen, der ist ja längst im Bühnenhintergrund vergessen. Nein, ein Statist in der dritten Reihe erhebt sich plötzlich, nachdem das Saallicht an und das Bühnenlicht ausgegangen ist, und brüllt den Satz auf Niederländisch Richtung Bühne: „Dood aan deze vrouw!“. Dieser humorvolle Slapstick in Sachen wütende Publikumsreaktion erweist sich allerdings heute als unnötig, das Amsterdamer Publikum reagiert ungeteilt offen und begeistert, Salome darf nicht sterben, vor allem nicht in Amsterdam!

Richard Strauss: Salome
nach Oscar Wilde, Deutsch von Hedwig Lachmann
Musikalische Leitung: Stefan Soltesz
Regie: Peter Konwitschny
Bühne & Kostüme: Johannes Leiacker
Dramaturgie: Bettina Bartz
Oper Amsterdam
22. November 2009

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