Neuentdeckungen im Figurentheater

Im Westflügel zeigten junge Figurenspieler ihr Können und bezauberten mit Klonschafen, nächtlichen Geisterkämpfen und Häutungen

Doll-y. Ein Stück für fünf Spieler und ein Schaf (Alle Fotos: Marko Ehrhardt)

„Expeditionen“ – unter diesem Titel will der Westflügel in Zukunft Arbeiten junger Figurenspieler präsentieren. Dass das eine spannende Angelegenheit ist, konnte man am 19. und 20. Februar 2010 vor Ort erleben. Junge Künstler des Studiengangs Figurentheater der Stuttgarter Hochschule für Darstellende Kunst und Musik, des Studienfachs Puppenspiel der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin (Doll-y, Der Gruftwächter) sowie der Hochschule der Künste Bern (Haut # 2) zeigten ihre Werke. Lang sollte der Abend werden: Der Westflügel war ausverkauft, sogar auf den ungepolsterten Treppenstufen wurde Platz genommen.

Doll-y. Ein Stück für fünf Spieler und ein Schaf entstand unter der Regie von Iris Meinhardt und wurde von fünf Studentinnen verschiedener Jahrgänge und zweier Schauspielschulen dargeboten. Die Arbeit mit Materialien aller Art ist an der Stuttgarter Schule Programm – im Stück wird mit dem Material Mensch gearbeitet, Ziel: Die Erschaffung des Menschen. „Seit ich weiß, dass alles meine Erfindung ist, hüte ich mich davor, mit meinen Freunden zu sprechen.“ Wer das jeweils sagt, bleibt unklar, fest steht dieser Satz jedoch als zentraler Gedanke der Show, in der sich die fünf unter sphärischen Klängen (neu) erfinden, sich einander nähern, um sich wieder zu entfernen, sich gegenseitig über die ansonsten leere Bühne schieben oder schieben lassen, etwa mit Stöcken, gern auch mit Bewegungen, die denen von Aufziehpuppen gleichen und bestechend präzise ausgeführt werden. Wenn´s mal nicht so klappt mit den Bewegungen, diese gar auf ein Eigenleben der Puppe hindeuten, wird die Figur gelöscht – so geschehen bei Nr. 23. Was macht das schon? Nr. 24 sei willkommen im ewigen Leben! – Zwischenzeitlich kommt (Gen)Labor-Stimmung auf, alles wirkt sehr medizinisch, fast ein wenig steril, wenn im Off anatomische Lehrtexte heruntergebetet und gleichzeitig die Dolls an- und ausgeknipst werden. Sehr gekonnt wirken auch die exakten Lichtkegel, die den auswechselbaren Kreaturen ihre ebenso auswechselbaren „Wirkstätten“ vorgeben.

Verdienten Zwischenapplaus gab es für den Tanz von Dolly (dem Schaf!), einer wunderschön gearbeiteten Figur, von drei unsichtbaren Spielerinnen sauber geführt zur berühmten Musical-Melodie. Die Schlusschoreografie aus Puppenkopf, zwei Beinen und zwei Armen, die nebeneinander angeordnet auf der Bühne erscheinen und untereinander eine Art Machtkampf austragen, den keiner gewinnen kann, ist so eindrucksvoll, dass das Publikum am Ende lange still bleibt, ehe sich die Spannung in einem wohlverdienten und langen Applaus entlädt.

Der Gruftwächter

Franz Kafkas Drama Der Gruftwächter wird mit verschiedenen Materialien und Puppenköpfen von Maik Evers, Katharina Muschiol und Stefan Wenzel von der Stuttgarter Hochschule interpretiert, wobei von der Literaturvorlage hauptsächlich die Stimmung übernommen wurde. Den Einstieg in das Stück bildet die in mindestens doppeltem Sprechtempo vorgetragene Rechtfertigung des Morgenrituals von – ja, von wem eigentlich? Das des Fürsten? Das des Kammerherren? Gar das des Gruftwächters selbst? Eher zufällig scheinen in dem Stück einzelne Szenen zu entstehen, sich zu entwickeln, um dann plötzlich abgebrochen zu werden oder in eine neue Szene überzugehen. Es gibt Wiederholungen und Variationen einzelner szenischer Bilder, was sehr experimentell wirkt. Die Dramatik der Geburt eines Puppenkopfes unter orgiastischen Geräuschen wird durch gleichzeitiges gelangweiltes Schminken, gelangweiltes E-Gitarre-Spiel und durch Orff´sche Instrumente konterkariert. Von hohem Wiedererkennungswert innerhalb der Aufführung sind die Beschreibung des besagten Morgenrituals – das Schmieren eines Butterbrotes und philosophische Erörterungen dieser Tätigkeit – und die Kämpfe des Gruftwächters mit den nächtlichen Geistern – diese tragen die drei Darsteller gekonnt auf einem Podest aus, das etwa einen Meter Durchmesser hat. Zentrales Element, zentrales Material des Stückes ist ein großes rotes Tuch, das vielseitig „bespielt“ wird und auch selbst lebendig zu sein scheint: Als Bekleidungsstück, als Fettpolster und Krawatte, als Auskleidung eines Uterus, zum Schluss als immer größer werdender Gruftwächter. Mit der Umsetzung ihres Projekts gaben die Studenten einen Überblick über ihre darstellerischen Fähigkeiten, ohne dass der Eindruck einer Etüde jemals entsteht. Respekt!

Haut # 2 nannten Florian Feisel und Lisa Seidel-Kukuk ihr Projekt, das sie im Rahmen des Masterstudiengangs Theater der Hochschule der Künste Bern erarbeiteten. Auf der Bühne stehen eine flache Plastikschüssel und ein Laptop. Am Boden zwei linke Hände (mit Unterarmen), ein Gesicht, ein flacher Bauch, zwei linke Beine stehen herum. Ein weiteres Bein, bei dem man nicht erkennen kann, ob es ein rechtes oder ein linkes ist. Das Geräusch kommt von irgendwoher, eine Art surrealer Herzschlag. Lisa betritt das Theater, einen dampfenden Wasserkessel in der Hand und die Fernbedienung für den Laptop in der Tasche. Ein entsprechender Knopfdruck entlockt dem Computer eine Melodie, der Wasserkessel wird in die Plastikschüssel entleert. In dieser befindet sich, so lernt das Publikum jetzt, die zweite Haut der Darstellerin. Beliebig kann sie ihre Körperoberfläche darin abformen, Headline Nr. 4 des Stücks (szenische Bildhauerei am eigenen Körper) bekommt einen völlig neuen Sinn, wenn Lisa ihr Gesicht in den heißen Kunststoff presst. Es folgt der Tanz, das Aus-der-Haut und In-die-Haut-Fahren, jedem Stück Haut wird eine neue Melodie aus dem Computer zugeordnet. Dann die experimentelle Phase: Passt das Gesicht auf den Busen? Oder auf den Bauch? Vielleicht Busen und Bauch zusammen auf das Bein? Nein? Wo kann man die linke Hand unterbringen? Das Stück ist ästhetisch ansprechend und stellt einen angenehmen Ausklang des langen Abends dar. Lisas anmutiger Tanz hat mit dem, was man landläufig mit Aus-der-Haut-Fahren verbindet, nichts zu tun. Schließlich greift sie sich den Wasserkessel und verlässt das Theater.

„Expeditionen“

Doll-Y. Ein Stück für fünf Spieler und ein Schaf – Ensemble Dolly
Der Gruftwächter – Ein Projektabschluss des Studiengangs Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
Haut #2. Oder Lisa spielt mit sich selbst – Lisa Seidel-Kukuk

19. und 20. Februar 2010, Lindenfels Westflügel


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