Händels Opera seria „Admeto“ als Soap-Opera

Die Inszenierung schafft die stimmige, handwerklich gut gemachte Akualisierung eines alten Mythos, der in die Sechziger der Royals verlegt wird

Soula Parassidis, Hagen Matzeit (Fotos: Andreas Birkigt)

Mythen sind wandelbar. Das Arsenal der grundsätzlichen Konstellationen, aus denen sie bestehen, ist ebenso klein, wie die Wirkungen, die sich mit diesen kompakten Kombinationen erzielen lassen, groß sind. Dort, wo Mythen gleichsam Urszenen des Mysteriums der Liebe und des Lebens vorgeben, üben sie noch immer einen Sog des Faszinierenden auf uns aus, weil sie die nach wie vor offenen Rätsel der Menschheit in packenden Bildern verhandeln. Sie changieren und oszillieren zwischen Archaischem und Statischem einerseits und Lebendigem und Bewegtem andererseits. Sie sind zeitlos, weil sie sich immer wieder zeitgemäß darstellen lassen. Die Aktualisierung ihrer Kombinationen ist scheinbar grenzenlos.

Auf dieser Kunst der Kombination basiert auch die Barockoper. In Händels Admeto wird der Mythos um Alceste mit dem trojanischen Mythos der Antigona verbunden. Beide Frauen rivalisieren um die Liebe des Königs von Thessalien. Alceste, Admetos Gattin, opfert sich aus Gründen der Staatsräson für den König, nachdem ein Orakel verkündet hat, der todkranke Schuldbeladene könne wieder genesen, wenn einer für ihn stürbe, der ihm nahe stehe. Doch aus dem Hades wird Alceste auf Bitten Admetos von Herkules zurück nach Thessalien geführt. Dort angelangt, hat sie nichts Besseres zu tun, als inkognito die Liebe des Königs auf die Probe zu stellen. Sie hat allen Anlass zum Zweifel. Inzwischen nutzte Antigona die Gunst der Stunde, um sich in das tiefbetrübte Herz des trauernden Königs einzuschleichen. Auch sie verkleidet sich (als Gärtnermädchen). Ein komplexes Verwirrspiel von Intrige und Verrat entspinnt sich. Die Figuren versuchen im verwickelten Wettstreit, die Macht der Liebe, teils aus Liebe zur Macht, für sich zu gewinnen. Wir haben es hier mit einem gewissermaßen modernisierten Heldentum zu tun. In Händels Admeto handelt nicht mehr der heroische, von einer Urkraft angetriebene Held, der stolz und selbstgewiss den Willen der Götter vollführt. Wir sehen statt dessen den an seinen Leidenschaften verzweifelnden, am Schicksalsfaden zappelnden Menschen.

Der Nachwuchsregisseur Tobias Kratzer und sein Team ATEF, 2008 mit dem Grazer Ring-Award ausgezeichnet, haben diese verwickelte Welt miteinander verquickter Mythen in der Leipziger Inszenierung des Admeto, die am 19. März 2010 Premiere feierte, in eine ironisch distanzierte moderne Bildsprache überführt. Sie nutzen die Wandelbarkeit der Mythen für ein unkonventionelles Vexierspiel mit Raum und Zeit. Da die Opera seria dem barocken Gesetz der Serie verpflichtet ist, haben sie die Szene kurzerhand in eine dem modernen Gesetz der Serie folgende Krimi-Soap-Opera der Sechziger Jahre verlegt. Kostüme, eingeblendeter Vor- und Abspann verweisen darauf. Ort der Handlung ist ein imaginiertes, mit englischen Tudormöbeln ausgestattetes und auch sonst very british anmutendes, von intriganten Royals bewohntes Museumsschloss. In diesem Palast, durch den an Absperrungen entlang neugierige Touristen flanieren, als wären sie daheim, vollzieht sich das öffentliche Individualdrama Alcestes.

Der Clou der Inszenierung besteht darin, dass die in der Oper musikalisch-strukturell verarbeiteten antiken Mythen in der optischen Dramaturgie geschickt mit gemäßigt modernen Mythen der Medienwelt parallelisiert werden. So werden der sich aufopfernden Alceste Züge von Lady Di und Grace Kelly zugeordnet. Orindo wird als Miss Marple präsentiert. Das Ganze bekommt schließlich den Anschein einer Parodie auf Edgar-Wallace-Krimis der Sechziger. Turbulent genug geht es in Händels Libretto zu, um eine solche krimikombinatorische Lesart zu rechtfertigen: Suizid als Liebesopfer, Giftanschlag, Rache, Machtgier, Hass und Liebe sind nicht nur hochrangige Themen der großen Kunst, sondern auch Versatzstücke der Populärkultur, mit denen sich in einer aus derartigen Drapierungen bestehenden Oper wunderbar spielen lässt. Kratzer und ATEF jonglieren mit diesen halb ernst gemeinten, halb als Klischee verbrämten Bestandteilen der Oper seria wie mit Ping-Pong-Bällen, so dass eine groteske, bisweilen bizarre Komik entsteht. Da schrillt die Alarmanlage, wenn die Royals ihre Kronjuwelen in Gebrauch nehmen wollen, da quillt ein Meer von Kunstblumen um den Sarg Alcestes, der eine sensationsgierige Fangemeinde mit maßloser Vereinnahmung nachtrauert.

Der zweite Clou der Inszenierung besteht im Einsatz der Kunstfiguren ATEF. Dies sind fünf Melodica spielende Herren, die als Personifikationen des Schicksals auftreten und den Kairos der Momente veranschaulichen sollen – mal als Trauernde am Sarg, mal als virtuose Köche, mal als Hadesfiguren in Gestalt von Ahnen, die zur Mitternacht aus den Bilderrahmen im Spukschloss treten. Dort, wo die fünf geheimnisvollen Herren Melodica-spielend in Orchesterfunktion als Begleiter der Arien auftreten, überzeugt das Konzept, dass sie die heimlichen Protagonisten des Ganzen sind, von denen die handlungsvorantreibenden Kräfte ausgehen. Sie lassen die Figuren nach ihrer Melodie tanzen. Die eindrucksvollsten Momente erzielt Kratzer jedoch, wenn er Gesten für sich sprechen lässt, die den Gesang wirkungsvoll konterkarieren. Wenn im zweiten Teil auf der Drehbühne buchstäblich ein Blick hinter die Kulissen sichtbar wird, Alceste von ihrer Sehnsucht nach klaren Beweisen der Liebe Admetos singt und Herkules aus einer grünen Mülltonne Alcestes Negligés hervorzieht, die der in Antigona Verliebte nach dem Opfertod seiner Gattin selbstvergessen entsorgt hat, dann sind Musik und Bild zu einer für den hörenden Zuschauer eindrucksvollen Einheit neuer Eindrücke verschmolzen. Dies gelingt auch am Schluss, wo ein die versöhnende musikalische Handlung konterkarierende Giftmordanschlag das unumgängliche Happy ending der Opera seria aus den Angeln hebt. Kurz: Die Dramaturgie der Inszenierung ist schlüssig, schwungvoll, intelligent und lässt durchaus ein hohes Maß handwerklicher Versiertheit erkennen.

Die Inszenierung kann überdies insbesondere dadurch glänzen, dass sich die allenthalben spürbare Spielwut der Regie ungebrochen auf die Sängerinnen und Sänger übertragen hat. Die Arien werden eben nicht nur brav da capo abgesungen sondern durchaus lebendig in Szene gestellt. Dies ist nahezu ideal in Hagen Matzeits Darstellung des Admeto, der durch einen klaren, schön gestalteten Altus glänzte, der das ganze Register der Affekte vom leidenschaftlichen Furor bis zur zart nuancierten Koloratur beherrscht. Dies gilt ebenso für Soula Parassidis‘ mit Feingespür und königlicher Grandezza gesungene Partie der Alceste. Auch Elena Tokars Antigona überzeugt vor allem durch dieses darstellerische Talent. Die Spielfreude setzt sich bis in die Nebenrollen hinein fort, wunderbar stilecht wirkt Kathrin Görings Orindo in der Rolle der schrullig-verschrobenen Miss Marple, deren Bewegungen sie mit viel Geschick imitiert. Axel Köhler als intriganter Bruder des Königs, Trasimede, ließ seine Indisponiertheit vom Intendanten entschuldigen.

Dass Händels Admeto wie in den Sechziger Jahren in einer eigens für die Leipziger Inszenierung eingerichteten deutschen Fassung gesungen wurde, wird nur Puristen stören. Die hätten sicher auch manches an der Interpretation des Gewandhausorchesters zu bemängeln. Allerdings war das Dirigat Federico Maria Sardellis von derselben, manchmal etwas haltlosen Begeisterungsfähigkeit, die auch das Regieteam auszeichnete. Es gelang gleichwohl ein schöner Mittelweg. Die forsche vorwärtsdrängende Interpretation vernachlässigte angenehm eine allzustrenge kritische Aufführungspraxis.

Das traditionell kritische Premierenpublikum quittierte alle Leistungen des Abends mit anhaltendem Applaus. Nach dem sonderbaren Missgriff, den die Oper Leipzig auf der Suche nach neuen Talenten unter der regiebegabten Jugend in der letzten Spielzeit beging, ist ihr diesmal ein vergleichsweise echter Kunstgriff gelungen. Bleibt zu hoffen, dass man nun klug genug sein wird, diesem Team in absehbarer Zukunft eine weitere Chance am eigenen Haus zu geben. Auf Weiteres von dieser Art intelligenter und unverbraucht wirkender Regiearbeit macht diese Inszenierung allemal neugierig.

Georg Friedrich Händel: Admeto, König von Thessalien

Opera seria in drei Akten
Musikalische Leitung: Federico Maria Sardelli
Inszenierung: Tobias Kratzer
Mit: Hagen Matzeit, Soula Parassidis, Miklós Sebestyén, Kathrin Göring, Axel Köhler, Elena Tokar, Lars Arvidson
Gewandhausorchester

19. März 2010, Oper Leipzig. Weitere Termine: 23.4., 30.5., 1.6., 17.6.2010

Video der Oper Leipzig zur Inszenierung

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