Doppelt hält besser

Harrison Birtwistles modernes Oratorium „Angel Fighter“ wird beim Bachfest 2010 gleich zweimal aufgeführt

Thomaskirche (Foto: Gert Mothes / Bach-Archiv Leipzig)

Seit drei Jahren vergibt das Bachfest Leipzig alljährlich einen Kompositionsauftrag. Direkte Vorgaben hinsichtlich Thematik erhalten die ausgewählten Komponisten dabei nicht, lediglich die maximale Spieldauer und die Besetzungsgröße werden vorgegeben. Die Beschäftigung mit dem Werk Bachs ist natürlich doch impliziert, außerdem können sich Komponisten dem kaum verschließen. Friedrich Goldmann nutzte 2008 musikalisches Material aus der Matthäus-Passion, dem Sachsen Goldmann folgte 2009 der Japaner Toshio Hosokawa. Er reflektierte in seinem Stück Voyage X japanische – und deutschbarocke Gattungstraditionen.

Nach den zwei Instrumentalisten Goldmann und Hosokawa fiel die Wahl 2010 auf Harrison Birtwistle. Dieser arbeitet seit 1965, nach einem Studium für Klarinette und Komposition, ausschließlich als Komponist. Sein Werk umfasst neben Orchesterstücken, Konzerten und Kammermusik im Besonderen auch Opern und Kompositionen für Stimmen und hier setzt Birtwistle bei der Beschäftigung mit Bach und seiner Zeit an. Mit seinem Librettisten Stephen Plaice stellt er sich in eine allgemeine kirchenmusikalische Tradition. Eine moderne Komposition für Soli, Kammerchor und Ensemble auf der musikalischen Seite, inhaltlich gelingt den beiden ein reizvoller Überraschungseffekt: Die biblische Geschichte, in der Jakob nachts allein am Fluss Jabbok mit einem Engel kämpft und sich am Ende dessen Segen erstreitet und den neuen Namen Israel (= „Gotteskämpfer“) erhält, ist bisher so gut wie nicht vertont worden. Sicher lag für Birtwistle und Plaice hier ein Reiz sich dieser neuen Thematik anzunehmen. Wesentlich reizvoller ist aber die eigentliche Thematik selbst. Geschildert wird mehr oder weniger eine innere Situation, Jakob kämpft mit sich selbst und seiner betrügerischen Vergangenheit: Das Erstgeburtsrecht hat er seinem Bruder Esau für eine Mahlzeit abgekauft, den Segen seines sterbenden blinden Vaters hat er sich als Esau verkleidet erschlichen. Diese Vergangenheit zu überwinden ist das Thema von Angel Fighter und hier wird die Komposition vom Ansatz her plötzlich hochmodern. Innere Konflikte zu erkennen und zu überwinden, ist ein wichtiges Thema unserer heutigen Lebenswirklichkeit, Individuen werden in einer immer komplexer werdenden Welt auf sich selbst zurückgeworfen. Die dadurch entstehenden inneren Konflikte haben oft kein Gegenüber, da allgemeine Werte und ein humanistischer und religiöser Kanon immer mehr verdrängt werden. Jakob freilich hat dieses Gegenüber, er hat sich mit der Botschaft der Bibel auseinanderzusetzen.

Der Chor – Jakobs Sippe – kommentiert wie in einer griechischen Tragödie Jakobs Taten und hält ihm gnadenlos den Spiegel vor: „Jakob, seducer, deserter, …“ („Jakob, Verführer, Verräter, …“). Der Engel ist mit Countertenor besetzt, er bedrängt Jakob und zwingt ihn zum Kampf, zur Auseinandersetzung. Ob diese Auseinandersetzung eine reale im Sinne eines physischen Kampfes ist wie manche Textpassagen suggerieren – „On level ground, hand to hand!“ (“Auf gleicher Höhe, Hand gegen Hand“) – oder ob sich Jakobs Kampf nur in seinem Innerem abspielt, bleibt in Textpassagen des Engels wie „I am the boxer gazelle, the rushing ram, the mule that kicks behind“ („Ich bin eine stürmende Gazelle, ein rasender Bock, wie ein Maultier trete ich aus“) offen.

Die Musik des Stückes lebt vom intensiven Wechselspiel extrem dramatischer Chorpassagen, atmosphärischer Klangfelder und der tiefen, Jakob zugeordneten Instrumente. Vielstimmig beginnt der Chor Jakob zu ermahnen. Wo das Orchester anfangs nur in den Violinen flimmert entwickelt sich das Geschehen schnell zu einer dichten physischen Struktur. Tenor Jeffrey Lloyd Roberts gelingt es, Jakobs innere Qualen sicht- und hörbar zu dramatisieren. Angel Fighter ist ganz auf die beiden Protagonisten zugeschnitten. Die verzweifelten Ausrufe Jakobs erhalten viel Raum und können sich dann ohne begleitendes Ensemble im mächtigen Kirchenschiff so richtig ausschwingen. Überhaupt der Raumklang: Countertenor William Towers hat seinen ersten Auftritt auf der gegenüberliegenden Seite des Längsschiffes, im Singen tritt er langsam Richtung Bühne und seine zu Beginn tastenden weichen Töne können sich mit den Klangfeldern der Frauenstimmen verbinden. Ebenso am Ende des Stückes, wenn die Trompete das Verschwinden des Engels verkündet, arbeitet Stefan Asbury mit dem gesamten Raum der Thomaskirche.

Solisten, Chor und Ensemble sind bestens präpariert für die heutige Uraufführung. Stefan Asbury gelingt es unter dem vielfältigsten Klangflächen das innere Tempo des Stückes transparent werden zu lassen, gerade dann auch in der Wiederholung des Stückes hat man sich auf die lange Nachhallzeit der Thomaskirche eingestellt und der innere Drive der Komposition wir sehr physisch und erlebbbar. Mit der Entscheidung Angel Fighter nach den beiden Stücken von Bach nochmal zu wiederholen, haben die Macher des Programms viel Mut bewiesen. Nicht alle Zuhörer haben dafür Verständnis und verlassen leider die Thomaskirche. Musikalisch ist das allerdings so richtig aufgegangen. Für die Musiker, die beim zweiten Mal die räumlichen Eigenheiten noch besser ausnutzen konnten und natürlich für die Zuhörer, welche sich nach dem ersten Rantasten und Staunen beim zweiten Mal ganz der wunderbaren Musik Harrison Birtwistles überlassen konnten.

Bachfest Leipzig 2010

No34

Harrison Birtwistle: Angel Fighter (Uraufführung)

Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge C-Dur BWV 545

Johann Sebastian Bach: Sonate c-Moll BWV 526

Harrison Birtwistle: Angel Fighter (Wiederholung)

Orgel: Lukas Stollhof

Countertenor: William Towers

Tenor: Jeffrey Lloyd Roberts

RIAS Kammerchor

musikFabrik

Leitung: Stefan Asbury

13. Juni 2009, Thomaskirche


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