Fotografien auf Augenhöhe

Das Tipi im Westwerk zeigt Arbeiten der Leipziger Fotografen Karin Wieckhorst und Christoph Lehmann – der Gewinnertext des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2010 (3. Platz)

Ein Raum, im Westen Leipzigs, getauft auf den Namen Tipi, abgeleitet vom Lakota-Wort thi was so viel bedeutet wie etwa wohnen, leben, verweilen, versammelte unter seiner mit weißen Tüchern verhangenen Decke eine Vielzahl von Gesichtern und Geschichten, die von ihrer, uns fremden Lebensweise berichten. Bilder genau auf Augenhöhe, eng aneinandergereiht hängen sie, einem Filmstreifen ähnelnd an den drei Wänden, führen den Blick von einer Szene zur nächsten, erzählen „Aus dem Leben der Roma“ in Skopje. Farbig steht uns eine Lebenswelt gegenüber, die ansonsten nur zu gern in den Schattenbereich der Gesellschaft verdrängt wird. Ein alter Mann mit grauem Bart, erblindet, steht unter einem Büschel zum Trocknen aufgehängten feuerroten Paprikaschoten, ein kleiner Junge sitzt auf einem Pferd, umarmt vorgelehnt dessen Hals, in einer Einfahrt kommt ein Mann mit Hawaiishorts und stark tatauierten Oberkörper auf uns zu, im Hintergrund ist ein grau längliches Auto mit sechs Vorderlichtern und ein am Hauseingang lehnender Jugendlicher, der uns zulächelt, zu sehen. Es sind Momentaufnahmen, eingefangen von Christoph Lehmann, die weder eine künstliche Distanz erzeugen noch mit tragischer Ernsthaftigkeit die Armut akzentuieren, sondern vielmehr den Betrachter durch einen streifenden Blickkontakt in das Geschehen mit einbeziehen. Man geht vorbei an zwei schmalen Rundbogenfenstern. Durch die kleinen Glasflächen zwischen den eng gesetzten Sprossen sieht man auf das verregnete leer stehende Fabrikgebäude, Flachdächer, schmale Kamine, zwischendurch ein dünnes grünes Bäumchen. Dann rückt die nächste Bildreihe von Karin Wieckhorst „FREMDE. Asyl in Sachsen“ in das Sichtfeld. Zwei Frauen stehen lange vor einem Frauenportrait, betrachten, vergleichen ihre Gesichtshälften, denn eine davon scheint mehr zu lächeln als die andere.

Raunend, gläserklirrend, hüstelnd, murmelnd, lachend, redend werden die Stuhlreihen in der Mitte des Raumes besetzt. Wein und Schnittchen, Bier und Zigaretten, an die Bar gelehnte Organisatoren mit Strohhut, langen Haaren, herumlaufende Kinder und irgendwo vorne an einem kleinen Pult baut Jovan Nikolic, ein „Roma-Literat“ seinen Bücherstand auf. Er, der Grund warum hier noch alle zusammen verweilen fängt an vorzulesen. Mit mächtiger rauchiger Stimme wirft er Sätze in den Raum, Sätze in serbokroatischer Sprache, ob der feinen Betonung, der sich hebenden Augenbraue und der stark aufbrausenden und wiederverebbenden Lautstärke, des Blickes durch die Reihen und der kurzen Bedenkensstille scheint es einem fast so als verstünde man was da vorgetragen, was da erzählt wird, manch einer schmunzelt, manch einer lacht, mein Nachbar freut sich über den

Klang der unbekannten Sprache. Dann wird das Stück, übersetzt ins Deutsche, vorgetragen von seiner Assistentin, flach und streng betont, so dass man hier letztlich zwar mehr Worte versteht und weiß, dass es sich um eine verzweifelte Liebeserklärung, um eine Schilderung des betrunkenen Großvaters, um die enge Beziehung zwischen Roma und ihren Pferden handelt aber doch nicht so sehr mitlacht, mitfühlt als in seiner Version. So bleibt zum Schluss der Eindruck bestehen, dass grenzüberschreitende Verständigung zweierlei bedarf: dem Wort und der Empathie. Und beides fand man sowohl in der lyrischen Darbietung als auch visuell verarbeitet in den Bildern wieder.

Vernissage – Fotoausstellung und Lesung

Karin Wieckhorst: „FREMDE. Asyl in Sachsen“

Christoph Lehmann: „Aus dem Leben der Roma“

6. Mai 2010 Tipi im Westwerk

Verleihung des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2010


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