Ein Mann, eine Leinwand und eine Kamera: Volker Gerling präsentiert sein Daumenkino-Programm „Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt“ – Werkstatt-Tage im Theater der Jungen Welt
Was tut ein Mann 21 Stunden lang auf einer Berliner Herrentoilette? Ganz einfach: Er sammelt Material für ein Daumenkino. Das macht jedenfalls Volker Gerling. Skurril, aber gar nicht mal so abwegig. An einem Ort, der lediglich dazu da ist, sich zu erleichtern, herrschen Anonymität und Bewegung. Menschen kommen und gehen – hektisch oder gelassen; Zeit verstreicht. Man kann dies geschehen lassen, als sei es das Normalste der Welt – oder fest halten, als sei jeder Augenblick etwas Besonderes. Auch auf einer Herrentoilette.
Gerling benötigt dazu 12 Sekunden und 36 Fotos. Mit drei Bildern pro Sekunde fängt er das ein, was ein Mensch in einem winzigen Augenblick seines Lebens von sich preis gibt und präsentiert es in Form von Daumenkinos. Nicht immer besteht das Publikum, wie am Dienstagabend im Leipziger Theater der jungen Welt, aus Kunstinteressierten. Imbiss-Besitzer, Bauarbeiter, Familienurlauber – sie alle lassen sich auf Gerlings Reisen, die ihn zu Fuß quer durch die Republik führen, von seinen Daumenkinos fesseln. Kein Wunder, dauert es doch nur 12 Sekunden, sich eines der Daumenkinos anzusehen. Die hat jeder übrig. Außerdem fangen sie unerwartet komische Gesichtsregungen und Bewegungen der Abgebildeten ein. Das führt zu so manchem Lacher und ist Unterhaltung pur – auch für Kulturbanausen. Klingt primitiv; ist es aber nicht. Kleine Daumenkinos werden zu großer Kunst. Jedes der Fotos ist so ausdrucksstark, dass es auch allein bestehen könnte: perfekte Kompositionen und der Blick für das Besondere im Alltäglichen machen die schwarz-weißen Momentaufnahmen einzigartig.
Mindestens genauso fesselnd wie die Bilder selbst ist die Art, wie Gerling diese im Theater präsentiert: Wenn er nicht spricht, ist – abgesehen vom Lachen des Publikums – nur das ratternde Geräusch der Daumenkinos vernehmbar. »Bilder lernen laufen, indem man sie herum trägt« benötigt lediglich einen Mann, eine Leinwand und eine Kamera, die das Aufblättern der Daumenkinos filmt. Auch so kann Theater funktionieren. Sogar sehr gut.
Packend erzählt Gerling die Entstehungsgeschichte jedes Kleinfilms: Er erklärt, was die Abgebildeten für ihn interessant machte, gestikuliert und gibt so manches von sich selbst preis. Niemals bleiben die Personen auf den Fotos anonym: Gerling nennt ihre Namen und schildert die Begegnungen. Der Effekt: Ein Verbundenheitsgefühl mit den auf die Leinwand projizierten Menschen. Deutlich erkennbare Gesichtszüge lassen den Eindruck entstehen, man säße den Porträtierten gegenüber, so wie man Gerling gegenüber sitzt.
Der Sinn des Ganzen? Begegnungen. Die Daumenkinos erzählen von Menschen, denen man auf gewöhnlichem Weg nie begegnet wäre: Heike ist 15, Thomas 11. Die beiden sind ein Paar, seit zwei Jahren. Alex, den Gerling beim Baden mit Freunden am Fluss getroffen hat, könnte niemals wie er monatelang zu Fuß durch Deutschland streifen. Denn ohne Strom kann der Teenager nicht leben – da müsste er ja auf seinen Computer verzichten. Jeder dieser Geschichten verleihen Gerlings Daumenkinos ein Gesicht. Ob innerhalb oder abseits der Theatersäle: Manche Gesichter vergisst man, an andere wird man sich lange erinnern.
Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt
Von und mit Volker Gerling
Gastspiel von Daumenkinographie (Berlin)
Anlässlich der 17. Werkstatt-Tage der Kinder- und Jugendtheater
28. September 2010, Theater der Jungen Welt, Etage Eins
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