Wir sind Horatio

Ein Kampf gegen die Macht des Autors: Das Agora Theater richtet in „Wanted Hamlet“ die Waffe gegen den Schöpfer – Werkstatt-Tage im Theater der Jungen Welt

Ein Puzzle der Assoziationen (Foto: Willi Fitz)

Sechs weiße Zelte türmen sich auf, davor sieben weiß gekleidete Schauspieler, allesamt mit E-Gitarren gerüstet. Lampen werfen schummriges Licht, der Sound eines Country-Songs ertönt. Das ist Hamlet. Wanted Hamlet. Wer eine werkgetreue Inszenierung des Shakespeare-Dramas erwartet, ist fehl am Platz. Wer bereit ist, „to be or not to be“ in zeitgenössischem Kontext zu betrachten, goldrichtig.

Tragödien. Immer dasselbe Muster: Am Ende sterben (fast) alle. Abend für Abend verkörpern die Schauspieler den Tod. Weil das Genre es vorschreibt, sterben sie für den Zuschauer; er selbst überlebt. Er ist Kreon, Escalus Prinz von Verona, Horatio – nie aber der Held.

Am Donnerstag hat der Tod bei dem Gastspiel des belgischen AGORA Theaters auf der Bühne des Theaters der jungen Welt seinen großen Auftritt: Unmengen von Schüssen, dramatisch zu Boden sinkende Menschen und kraftvolle Gesänge über das Morden. Wozu? Autorität, auch die des Autors, steht hier auf dem Prüfstand.

Gemeinhin verkörpern Schauspieler die Figuren, die Shakespeare erschaffen hat; tun, was er ihnen zugeschrieben hat; simulieren den Tod, weil es in Hamlet so vorgesehen ist. All das geschieht, weil der Autor – nicht anders etwa als Imperatoren oder Industriekapitäne – die Macht hat, es geschehen zu lassen, gestern, heute, morgen. Aber wer will schon sterben, sich Rollen fügen, Autorität respektieren, die nicht zeitgemäß ist? Niemand. Auch keine literarische Figur. Auf den Punkt bringt dies Marcel Cremers Wanted Hamlet. Die Inszenierung ist ein Aufruf, sich zu lösen – vom Text und von trügerischen Oberhäuptern.

Cremer befreit den Stoff vom Gespenst des Autors, haucht ihm Zeitgeist ein. Figuren brechen aus festgefahrenen Rollenzuschreibungen aus: „Du bist nie auf mir geritten“, klagt Ophelia Hamlet als aufgebrachtes Showgirl an – von Unterdrückung der Frau keine Spur. Hamlet selbst wird zum rebellischen Jim Morrison-Imitator, der Krieg verachtet und die Sensations- und Rachegelüste der westlichen Welt entlarvt. Lachend, schreiend, springend werden auf der Bühne neue, bessere Welten kreiert.

Der wohlbekannte Plot um den Prinzen von Dänemark existiert dabei nicht. Viel mehr sind es die vor Kraft strotzenden Texte – ausschließlich Monologe –, die Cremers Inszenierung ausmachen: „Ich bin nichts. Ich bin nicht. Ich bin Hamlet. Mein Autor gab mir die Waffe. Mit ihr werde ich ihn töten. Meinen Autor.“ Der Zuschauer wird gefordert: vielschichtige Gedankengänge, in denen der Angriff auf die kapitalistische Welt eben so zentral ist wie die Kritik am abgedroschenen, werktreuen Theater. Ein Puzzle der Assoziationen entsteht. Zusammensetzen muss es jeder selbst.

Getragen wird das Stück von Rocksongs, die ebenso elementar sind wie die Sprechpassagen. Als roter Faden ziehen sich die Kleinkonzerte durch das Stück. Musik wird zum Sehnsuchtsort, zum Angriffsinstrument, zur besten aller Waffen – geschaffen im Theater, einem anspruchsvollen Theater, das wach rüttelt. Was hilft es, wieder und wieder das Sterben zu spielen? Ein Gegengift gilt es zu finden: gegen den Tod, gegen den Autor, gegen das System.

Wanted Hamlet

Von Marcel Cremer frei nach William Shakespeare

Gastspiel vom Agora Theater (St. Vith)

Anlässlich der 17. Werkstatt-Tage der Kinder- und Jugendtheater

30. September 2010, LOFFT


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