Spurensuche im „Trutzgau“

Vom Nationalsozialismus ist auch Thüringen nicht verschon geblieben – ganz im Gegenteil: Das neue Buch von Willy Schilling führt an die historischen Orte im Land und beschreibt wesentliche Ereignisse

„In Thüringen hat sich einst infolge der vielfachen Erbteilungen nie ein politisches Machtzentrum deutschen völkischen Lebenswillens bilden können. […] Nun aber dürfen wir zuversichtlich hoffen.“ – Mit seiner Hoffnung war der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel gewiss nicht allein. Denn Thüringen war ganz und gar kein Widerstandsnest gegen den Nationalsozialismus (NS). Dieser erlangte hier viel früher parlamentarischen Einfluss als in anderen Ländern des Deutschen Reiches und die NSDAP erzielte hier taktisch wichtige Erfolge. Der erste Reichsparteitag fand 1926 in Thüringen, im Deutschen Nationaltheater Weimar, statt. Und schon 1930 waren die Nazis an der Landesregierung beteiligt, aus der zwei Jahre danach die erste nationalsozialistische Landesregierung im Reich wurde. Weimar war eine von Hitler besonders geschätzte Gauhauptstadt, die mit dem Gauforum Pilotprojekt dafür wurde, wie anderswo die nationalsozialistische Macht architektonischen Ausdruck finden sollte. Das 1933 in Nohra eingerichtete „Schutzhaftlager“ gilt als erstes KZ. Später verlagerte sich die kriegswichtige Produktion bevorzugt nach Thüringen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene kamen massenhaft und unübersehbar zum Einsatz und zu Tode. Kurzum: Thüringen war der NS-Mustergau, bildete das „braune Herz“ Deutschlands.

Auf dessen Spurensuche hat sich der Geschichtswissenschaftler Willy Schilling begeben und hat einen historischen Reiseführer für Thüringen geschrieben, der zu jenen Orten führt, die zwischen 1933-1945 eine besondere – meist mit Verbrechen verbundene – Rolle spielten. Anschaulich und mit vielsagendem Bildmaterial unterfüttert zählt er die Erinnerungsorte auf, unter denen sich vom KZ Buchenwald bis zum Kalischacht Merkers selbstverständlich auch die bekannten mit dem NS verbundenen Geschichtsplätze befinden. Das Interessante aber sind die vielen kleinen bzw. vergessenen Orte, die Schilling beschreibt, jene Relikte und Stätten, die man schnell übersieht oder gar nicht erst wahrnimmt, weil man um ihre Geschichte nicht weiß. Der NS-Musterhof Katzenstein z.B. in der Rhön entsprach mit seiner trutzartigen Burg-Architektur dem so genannten „Rhönplan“, demgemäß der gesamte Landstrich durch Vertreibung und Mord „aufgenordet“ und beipspielgebend für „artgerechtes“ bäuerliches Leben werden sollte. Von einem versteckten Atomlabor ist in Stadtilm noch das Kellergeschoss erhalten, das noch heute in Eisenach befindliche Panzerreiterstandbild vereint Ritterlichkeit und moderne Wehrtechnik symbolisch. Schilling listet zudem zahlreiche (ehemalige) Unternehmen auf, die z.B. in Form von Zwangsarbeit vom NS profitierten. Einige Biographien von NS-Personen aber auch von Gegnern und Widerständlern und eine Karte mit Gedenkstätten und Denkmalen ergänzen den historischen Reiseführer.

Über Erfurt ist u.a. zu erfahren, dass diese ohnehin zu den größten Wehrmachtstandorten Deutschlands gehörende Stadt mit der Löberfeld-Kaserne 1934 eine weitere Kasernierungsanlage bekam. Auch die Berg-Kaserne am Tannenwäldchen und das Neue Offiziersheim stammen aus der NS-Zeit und werden noch heute von der Bundeswehr genutzt. Zu den wenigen nichtmilitärischen öffentlichen Gebäuden von damals gehört die Thüringenhalle. Der Rohbau dieses Auftragswerks des Bürgerschützenkorps wurde 1939 begonnen. Beim Errichten dieser gigantischen Kopie eines niederdeutschen Bauernhauses sind – unter dem politischen Willen des Oberbürgermeisters – Teile des dort gelegenen jüdischen Friedhofs entfernt worden. Warum der Hallen-Name in Frakturschrift auf dem Gebäude prangt, ist sicherlich kein dezenter Hinweis der Stadt auf dessen Gründungsgeschichte.

Natürlich stellt das Buch keine umfassende Geschichte Thüringens im NS dar. Es ist aber eine aufschlussreiche Stippvisite in diese Zeit und Blick auf ihre Spuren in der Gegenwart.

Willy Schilling:

Thüringen 1933-1945

Der historische Reiseführer

Ch. Links Verlag, Berlin 2010

128 S., 14,90 €


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