Scharfer Wind aus Osteuropa

Kaukasische Lektionen, polnische Tragödien und jamaikanischer Frohsinn: Ein Erlebnisbericht zum 53. Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmfestival

Jerzy Sladkowski gewann für „Vodka Factory“ die Goldene Taube (Fotos: DOK Leipzig)

Wenn ich den großen Stapel an eingerissenen Kinokarten auf meinem Tisch liegen sehe, wird mir die Dimension des diesjährigen Dokfestivals nochmal bewusst. Wie oft hatte ich meine Zeit wohl im Kinosessel verbracht? Und trotzdem kann ich nur einen kleinen Eindruck von einem derart umfangreichen und vielschichtigen Spektakel vermitteln.

Dabei fällt mir besonders der osteuropäische Einfluss auf. „Kaukasische Lektionen“ lautet der Titel einer mehrteiligen Programmreihe, in der filmische Eindrücke der Länder Aserbaidschan, Kirgistan und Georgien mit der Kamera eingefangen wurden. Rares Filmmaterial.

Daher wollte ich unbedingt den ersten Streifen dieser Reihe, „Tender Transitory Transport“, sehen. Ich nahm aufgrund seiner Machart an, dass es sich um einen kurzweiligen Vorspann zum Hauptfilm handeln würde. Leider irrte ich mich. Eine in Linien und Kreisen vorüberziehende, durcheinander geschnipselte Bildserie von Flugzeugen, Straßen, Autos und allen möglichen Formen und Figuren, begleitet von einer betäubt und teilnahmslos klingenden Frauenstimme flackerte mir in einem Zeitraum von zehn Minuten entgegen.

Der nächste Film mit dem Titel „Border“ des Regisseurs Harutyun Khachatryan war schon deutlich klarer. Aus den Augen eines Ochsen dokumentiert er kommentarlos ein hartes Landleben: von der Tierschlachtung bis hin zur Ziegenmilchgewinnung und den dazwischen aufschimmernden Familienhöhepunkten wie dem Weihnachtsessen in einer kärglichen Behausung neben dem Stall. Starke Bilder, nah dran an den Einheimischen. Doch sind es gerade die langwierigen, schweigsamen Einstellungen, die die Zuschauer beinahe fluchtartig aus dem Kino verschwinden lassen. Der Ochse im Stall blickt mich an. Lange. Inzwischen schon das gefühlte hundertste Mal. Auch ich gehe.

Polnische Familiengeschichte: Marcin Koszalkas Wettbewerbsbeitrag „Lets Run Away from Her“

„Kaukasische Lektionen 2“ am nächsten Vormittag. Andrey Nekrasov geht gemeinsam mit seiner Kollegin Olga Konskaya im preisgekrönten „Russian Lessons“ der Wahrheit des Krieges in Südossetien 2008 auf den Grund. Dabei decken sie erschreckende Fehlinformationen auf, der nicht zuletzt auch die deutschen Medien auf den Leim gingen. Die Bilder sind äußerst brutal. Augenzeugen berichten von unvorstellbaren Kriegsverbrechen. Südossetien – mehr als ein kleines Thema für Russland und die ganze Welt.

Ich orientiere mich neu, etwas weg vom Kaukasus, bleibe aber immer noch im osteuropäischen Raum: Die schwedische Regisseurin Jerzy Sladkowski erzählt in „Vodka Factory“ die Geschichte einer jungen Frau, die der Tristesse des russisch-provinzialen Lebens entfliehen will, um sich als Schauspielerin in Moskau zu etablieren und dabei alles hinter sich lässt – sogar ihren Sohn. Die Dokfilmjury würdigte diese abendfüllende Charakterstudie mit der Goldenen Taube, der höchsten Auszeichnung des Festivals. Auch mich hat der Film berührt, allerdings störte mich die Inszenierung einiger Szenen.

In Marcin Koszalkas „Lets Run Away from Her“, meinem nächsten Film, geht es um eine polnische Familie, die sich mit den Themen Tod, Ehrlichkeit und Familienbande auseinandersetzt. Die Schwester des Regisseurs spricht über Mama und Papa und fordert ihren Bruder hinter der Kamera ständig heraus. Das Ganze wirkt auf mich sehr belehrend, zumal Frau Koszalkas mit vorwurfsvollem Ton und Trotz argumentiert.

Eine weitere polnische Tragödie zeigt „Geheimsache Ghettofilm“. Die deutsch-israelische Koproduktion der Regisseurin Yael Hersonskis birgt unveröffentlichtes Rohmaterial, das erst in einem Nazibunker und dann in DDR-Archiven lagerte, bis es schließlich seinen Weg zum Schnittplatz fand. Entstanden ist eine beklemmende Reise. Eine Reise, die chronologisch in den ersten Maitagen 1942 beginnt und die 30-tägige Filmtätigkeit im Warschauer Ghetto mit detektivischer Genauigkeit analysiert.

„Geheimsache Ghettofilm“: Was war bloß der Plan der Nazis, diesen Film zu drehen?

Das Paradoxe an diesen Aufnahmen sind ihre Ideenstifter, die Nationalsozialisten selbst. Zeitzeugen kommen zu Wort: die Lebendigen, darunter der einst aktive Kameramann, sowie auch die Verstorbenen – über ihre Tagebucheinträge. Und alle Beteiligten stellten und stellen sich eine Frage: Warum dieser Film? Was war der Plan der Nazis, bis zur Absurdität inszenierte Szenen vom Luxus im Ghetto mit ungeschönten Aufnahmen von auf der Straße liegenden Hungeropfern zu mischen? Ging es ihnen um ein authentischeres Bild des Ghettos, das aber nicht zu authentisch sein durfte? Wenn ja, für wen? Fragen, auf die wahrscheinlich niemand eine endgültige Antwort finden kann.

Schon ist es Sonntag und die schwindende Masse von Menschen in der Leipziger Innenstadt lässt erkennen, dass sich das Festival im Endstadium befindet. Doch mein ganz persönlicher Höhepunkt naht erst noch – in gemütlicher Runde im Keller der Kultkneipe Basamo sehe ich noch einen letzten beeindruckenden Film. „Rose Murray – Portrait of a Photographer“ von Donna Meistrich und Alexander Bendahan zeigt eine Frau, die ein Leben im Goldenen Käfig ihrer Diplomatenfamilie gegen das Leben als Fotografin in „Shanty Town“, einem Elendsviertel in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, eintauschte. Entstanden sind Bilder der Menschlichkeit: lachende Gesichter, spielende Kinder. Menschen, die trotz ihrer schlechten Umstände ihr Leben als wertvoll empfinden. Für mich ein äußerst herzlicher Film und damit ein gelungener Festivalabschluss.

In der Nacht zu Hause angekommen, schaue ich wehmütig auf die vielen Prospekte, die sich im Laufe der Tage angesammelt haben. Ein großartiges, internationales und sehr menschliches Festival ist zu Ende gegangen. Doch im nächsten Jahr hätte ich gegen ein wenig mehr Humor nichts einzuwenden.

53. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

18.-24.10.2010

www.dok-leipzig.de

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