Der Tanz der Tramps

Mit Schuh, Stock und Melone zeigte Mario Schröder bei der Premiere von „Chaplin“ das Leben Charlie Chaplins mit dem Leipziger Ballett im Opernhaus

Ein kleiner Mann mit großem Geist: Charlie Chaplin (Fotos: Andreas Birkigt)

Ein Hut, ein Stock, ein berühmter Mann, vor, zurück, zur Seite, ran. In sanften Etappen des ganz großen Stils arbeitet sich das Leipziger Ballett an den tragischen Clown mit Schnauzer heran. Die Inszenierung, die am 30. Oktober im Leipziger Opernhaus Premiere hatte, heißt kurz und klassisch Chaplin.

Mario Schröder, neuer Ballettdirektor und Chefchoreograf des Leipziger Balletts, erarbeitete sich den Lebenslauf Chaplin und beschäftigte sich mit der Frage, wer denn der Mann unter der Melone sei. Ein kleiner Mann mit großem Geist, lautet die Antwort. Charlie Chaplin war ein Genie, der einen Beitrag zur Filmkunst geleistet hat, der heutzutage nach wie vor ungeschwächt als Vorbild für jeden ambitionierten Künstler gelten kann. Dementsprechend lasten hohe Erwartungen auf Schröders Schultern, doch die scheinen ihn nicht allzu sehr zu bedrücken. Denn die Inszenierung ist gelungen, sie ist witzreich, berührend, ästhetisch anspruchsvoll und tiefsinnig.

Chaplin wird hier nicht als Einzelner gedacht. Es werden Existenzen geschaffen, die langsam miteinander verschmelzen. Der Vorhang hebt sich, das Ensemble wirbelt über die Bühne. Jeder Tänzer trägt ein Tramp-Element. Entweder eine schwarze weite Hose, große Schuhe, eine Melone oder einen krummen Spazierstock. Auf der Hinterwand der Bühne ist ein Schattenspiel aufgebaut, in welchem Chaplins Kindheit erzählt wird. Hier wird der Mensch Chaplin vorgestellt. Die Kunstfigur Chaplins, der Tramp, steht am vorderen Bühnenrand mit dem Rücken zum Publikum und watschelt langsam auf das Schattenspiel zu. Künstler und Kunstfigur gibt es bereits, sie haben sich nur noch nicht gefunden. Doch sobald Chaplin seinen Tramp kreiert, tanzen er und sein Image stets Seite an Seite. Sie leben zusammen, lieben und leiden.

Die Idee ist großartig und wunderschön anzusehen. Tomás Ottych tanzt den Menschen Chaplin und tut dies sehr gefühlvoll, man sieht, er hat sich mit seiner Rolle auseinandergesetzt, und sein Tanz der Einsamkeit im fünften Bild nimmt einem die Worte.

Amelia Waller ist Chaplins Tramp und ihre Darstellung verstört durch ihre Authentizität. Man sieht keine Ballerina, die den Chaplin gibt, wie man ihn aus seinen Filmen kennt. Sondern glaubt, diese Figur vor sich zu haben, so überzeugend etabliert sie deren Charakteristika. Das Schulterzucken, das Watscheln in riesigen Schuhen, das verdutzte Hochziehen des Schnauzers und der naive traurige Blick. Die Hauptdarsteller sind genial besetzt und inszeniert. Ihr Zusammenspiel berührt tief.

Das Ballett findet eine wunderbare Lösung, den Krieg, der sich als Schatten über Chaplins Schaffen legt, einzubinden. Die berühmte Barbierszene aus Chaplins Meisterwerk Der große Diktator wird vom Ensemble mit Wehrmachtshelmen nachgestellt. Das Orchester unterlegt die Szene mit Brahms. So originalgetreu die Szene gespielt wird, wird am Ende nicht das Kinn des Kunden gesäubert, sondern stattdessen der Helm poliert. Bombendetonationen werden über Licht und Ton eingeblendet. Die beiden Weltkriege sind kein separates Thema, sie sind eine surreale Co-Existenz.

Als etwas leidig ist in dem Kontext die Inszenierung von Chaplins Liebesleben anzusehen. Hier misst es an der Intensität, welche jedes andere Bild prägt. Die Ehen Chaplins erscheinen hier eher als ein Muss, um die Erwartungen zu befriedigen, die sich an den Kitschfaktor eines Balletts richten. Schmachtende Musik, schmachtende langhaarige Mädchen. Das muss nicht sein. Das braucht diese Inszenierung nicht.

Über die anderthalb Stunden hinweg verbleibt der Eindruck eines durch und durch gelungenen Abends, den man so schnell nicht wieder vergisst.

Chaplin

Ballett von Mario Schröder

Musik von Charlie Chaplin, Benjamin Britten, Samuel Barber und Richard Wagner

Choreografie: Mario Schröder

Leipziger Ballett, Gewandhausorchester

Premiere: 30. Oktober 2010


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