Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss

In der Spinnwerk-Produktion „Kein Ort“ wird der Begriff Heimat neu ausgehandelt

Darsteller im ewigen K(r)ampf, voller Spannung, voller Präsenz (Foto: R. Arnold / Centraltheater)

Sie toben, hoffen, hüten ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das sich dem wenig gefüllten Zuschauerraum an diesem Abend im Spinnwerk erst sehr spät offenbaren sollte. Sie, das sind Maxim (Ron Uhlig) und Georg (Kilian Land). Sie sind Freunde, schon lange. Gemeinsam aufgewachsen in einem kleinen Ort, der sie nicht entlässt aus seinen Fängen der Perspektivlosigkeit. Und der doch ihre Heimat ist. Oder war? Alles scheint hier ausgewaschen zu sein. Aus ihrer Kleidung, die beide wie bayrische Schuljungen wirken lässt, sind sie längst herausgewachsen, und doch tragen sie die zu kleinen Pullover und zu engen Lederhosen, als sei nichts geschehen. Herausgewachsen sind sie auch aus ihrer Heimat, oder vielmehr: aus dem Inbegriff von „deutscher Heimat“. Er ist ihnen zu klein, zu eng geworden. Frei bewegen können sie sich lange schon nicht mehr. Maxim will weg. Zum Bund: Auslandseinsatz, doch sein Knie…

Georg hat einen anderen Plan: Er will die alte Fabrik wieder aufbauen, denn wenn erst einmal die neue Zugverbindung gelegt ist, dann wird sie wieder eröffnen können. Dort werden sie arbeiten, bei den ordentlichen Leuten, nicht als Arschkriecher in irgendeinem Großkonzern. Ihre Bemühungen scheinen hoffnungslos auf den Zuschauer, es ist klar, dass sie es doch nicht raus schaffen werden. Raus aus Neutal. Stattdessen diese Bürde, diese Last: das Geheimnis. Sie haben etwas getan, hielten es für richtig. Sie wollten alles nur besser machen. Doch es erdrückt, und als Georg auch noch Benni (Richard Wagner) in die ganze Sache einweiht, droht die Situation zu eskalieren.

Was der junge Regisseur Ricardo Gehn mit seinem Stück Kein Ort aufzeigt, ist der Kampf zweier Jungen mit der eignen Identitätsfindung. Der Suche nach einem Leben, welches nicht gegen die eigenen Ideen und Prinzipien verstößt. In einem perfekt abgestimmten Zusammenspiel aus Bühnenbild und der Nutzung desselben wird eine Geschichte erzählt, die den Zuschauer fesselt, weil sie ihn im Dunkeln lässt und doch nicht langweilt. Zunächst kann er nur erahnen, wie hoch das Ausmaß der Geschehnisse wirklich sein würde. Die Schauspieler platzieren sich geschickt in den alten Doppelfenstern, die für das Spinnwerk so markant sind. Die Umgebung wird in das Spiel eingebunden, als wäre sie aufgebaute Kulisse. Und auch diese überrascht. Ein großer Kasten, randvoll gefüllt mit schwarzer Erde, so dass die Figuren nach Herzenslust graben, vergraben und bergen können. Mehr braucht es an diesem Abend nicht.

In einem ewigen K(r)ampf, voller Spannung, voller Präsenz zeigen sich die Darsteller. Klar ausgebaute Rollen treiben die Handlung voran und drängen sie zu ihrem Höhepunkt. Doch was man vermisst, sind Veränderungen. Die Dialoge zwischen dem Paar Marta und Maxim laufen aus, ohne etwas gesagt zu haben. Eindringlichkeit fehlt und Unklarheit bleibt. Und die Frage nach dem Zweck des Zusammentreffens beider. Auf der andern Seite hingegen bestechend: der Wortwechsel der zwei Freunde. Subtile Anspielungen und gedankenreiche Überlegungen überzeugen. Die aufgeladenen Dialoge wirken weder gespielt noch unecht. Auch im Ungesagten, lebt das Stück. Es ist keine Rechtfertigung, keine Erklärung, für das Geschehende notwendig. Und vielleicht beginnt ja genau da Heimat.

Kein Ort

Regie und Text: Ricardo Gehen

Mit: Kilian Land, Antje Renhak, Ron Uhlig, Richard Wagner

3. Dezember 2010, Spinnwerk


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