Tu ma lieber die Märchen

Nicht von gestern: Der Sammelband „Grimmskrams & Märchendising“ liefert einen kulturwissenschaftlichen Rundumschlag durch die Märchenwelt der Grimms

MÄRCHEN, n. kleine mär, kleine erzählung: fabula mergin … im gegensatz zur wahren geschichte stehend: mährchen, welche allen völkern in ihrer kindheit die wahre geschichte ersetzen und sie zu kriegerischen thaten begeistern.
Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch

Können uns Märchen heute noch etwas sagen? Was soll man mit dem Kinderkram in modernen Zeiten anfangen? Und ist diese altbackene Geschichtenform nicht überlebt und taugt höchstens dann noch etwas, wenn es als Grimms Manga oder plüschig-peinliche Disney-Weihnachtsverfilmung daherkommt? Ganz und gar nicht, die Gebrüder Grimm sind im Gegenteil auf eine virulente Weise wirksam und haben die spätmoderne Lebenswelt tief durchdrungen. Sie sind etwa in der Alltagssprache präsent, und ihre märchenhaften Motive tauchen in Werbung und Unterhaltung immer wieder von neuem auf. Wie tief die Volks- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm in der Gegenwartskultur verankert sind und wo sie überall aufscheinen, zeigte die Ausstellung Grimmskrams & Märchendising 2009 in Marburg – und ist im dazugehörigen Begleitbuch nachzulesen.

Die enthaltenen Beiträge kreisen allesamt um die Stellung und Bedeutung des Märchens und gehen den von diesen geprägten Images und Ikonografien nach – wenn er auch ausgedient hat, so ist der 1000-DM-Schein hierfür paradigmatisch –, die durch die Welt schwirren. Märchen lösen darum auch heute Emotionen aus und berühren uns, so ist hier zu erfahren, weil ihre Figuren in existentielle Situationen geworfen sind und elementaren Gefahren sowie Erfahrungen ausgesetzt sind. Liebe und Leid, Horror und Hoffnung: Märchen gehen uns einfach an.

Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe (Das tapfere Schneiderlein), manche Frau muss – sofern sie sich heterosexuell orientiert – mitunter viele Frösche küssen, ehe sie ihren Prinzen findet (Froschkönig), einige leben in Saus und Braus (Lumpengesindel) und Schlitzohren gelingt es, aus Stroh Gold zu spinnen (Rumpelstilzchen).

Der massive Marketingeinsatz von Grimms Werk in der Konsum- und Warenwelt überrascht, wenn er in seiner Fülle vor Augen geführt wird. So wirbt die Prinzenrolle seit geraumer Zeit mit Dornröschen-Bezug. Auch ein Rotkäppchen-Camembert mag denjenigen nur erstaunen, der (noch) nicht weiß, dass es im 19. Jahrhundert in Schlesien geradezu einen Trend gab, Weichkäse nach Figuren aus Märchen zu nennen. Oft finden sich jene Produkte, welche überwiegend aus dem Lebensmittelbereich stammen, in Märchenkulisse beziehungsweise mit Grimmmotiven inszeniert. Selbst eine ganze Bio-Kette heißt nach einem Märchenwesen mit wallendem, turmlangen Haupthaar. Als Randnotiz kann man mitnehmen, dass der Rotkäppchen-Sekt, der fast um die Ecke in Freyburg produziert wird, keinerlei Verbindung zum gleichnamigen Märchen hat – auch wenn viele Kunden eine solche herstellen. Und wer hätte gedacht, dass im Geburtshaus der Märchenerzählerin Dorothea Viehmann, einer wichtigen Quelle für die Sammler-Brüder, eine Brauerei ansässig ist, die sich der Vermittlung von Bier- und Märchenkultur verpflichtet.

Aufschlussreich lesen sich auch kleine Filmanalysen, die etwa an Aschenputtel-Versionen verschiedenen Alters die jeweiligen gesellschaftlichen Ideale und Verhältnisse herausstellen. Während in der Disney-Verfilmung aus dem Jahr 1950 Cinderella wie eine Zeichentrick-Monroe erscheint und der Prinz einen schneidigen Soldat gibt, verkehrt der Ost-Klassiker Drei Haselnüsse für Aschenbrödel schon einmal die Geschlechterrollen und macht sich über den Hofstaat lustig. Beiträge über (un-)mögliche psycho-analytische Deutungen der Märchen bei Freud, Fromm & Co. und am Grimmschen Universum rührende pornographische Bildwelten und Fetisch-Fantasien runden den Lektüre-Parcours ab. So wird insgesamt ein schillernd wie erhellendes Licht auf viele Alltagsphänomene geworfen, die mit den Volks- und Hausmärchen in einer Beziehung stehen, mit ihnen verwoben sind oder sich ihrer bedienen.

Julia Franke & Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Grimmskrams & Märchendising

Panama Verlag – Berlin 2008

160 S. – 15 €

www.panama-verlag.de

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