Von den Versäumnissen des Lebens

Das Figurentheater Tübingen eröffnet mit „Rotschilds Geige“ im Westflügel das Jahr 2011

Ideenreich und zart erzählt: die Geschichte des Sargtischlers Jakow (Bilder: Fitz! Zentrum für Figurentheater, Stuttgart)

Nur allzu oft verstreicht ein Leben. Wohin es gegangen sei, fragt sich der Besitzer wehmütig, und wenn schließlich alles Fragen nichts mehr nützt, ist es Schwermütigkeit die bleibt. So ist das mit den Menschen, den Verbitterten, den Verlustezählern.

Auch Jakow gehört zu ihnen. Als Sargtischler fristet er sein Leben in einem kleinen Dorf, irgendwo im kalten, finsteren Russland. Er ist arm, denn die Leute wollen einfach nicht sterben. Und wer nicht gestorben ist, der braucht auch keinen Sarg. Stattdessen wird geheiratet im Dorf, und Feste feiern sie, als wäre ihnen das ewige Leben zuteil.

An diesem Abend im Westflügel kommt man Jakow ganz nahe, begleitet den alten, mürrischen Mann und seine Frau Marfa durch ein Leben voller Versäumnisse, untermalt von den schweren Klängen des Cellos, dem Christiane Zanger mit einer faszinierenden Leichtigkeit die traurigen Töne entlockt. Diese Klänge und die geschickten Finger Frank Soehnles hauchen Jakow Leben ein, lassen die Marionette tanzen an ihren Fäden, die oft heillos verheddert scheinen und mit einer Handbewegung doch wieder alle Glieder der Puppe präzise bewegen. Die Bewegungen sind derweil so anmutend und berührend, dass man meinen könnte, die Puppe selbst wird zum Menschen. Und wenn Jakow mit seinen knochigen alten Fingern die tägliche Arbeit antritt und große Sargnägel einschlägt, dann wirkt dies geradezu lebendig.

Anton Tschechows Erzählung Rothschilds Geige ist ein Einblick in die menschliche Seele, die durch das Ensemble Figurentheater Tübingen ideenreich und sehr zart umgesetzt wird. Geradezu liebevoll ist der Umgang mit den Bühnenelementen: Tücher und Vorhang werden geschickt eingesetzt. Man man sich sogleich verzaubert und gerührt, als die wundersame Marionette beginnt, den Takt des Cellospiels auf einer Holzkiste mitzuklopfen und dabei ihren Körper faszinierend subtil bewegt. Langsam setzt die Marionette einen Fuß vor den anderen in ihren viel zu großen Schuhen, wandelt so zwischen den wenigen Elementen umher. Und wenn Soehnle, der Mann an den Fäden, seinen Schützling einen großen Metalleimer ziehen lässt, bis dieser schließlich umfällt und sich alle Walnüsse auf dem Boden verteilen, dann spürt man regelrecht die Kraft, die die Puppe dafür aufbringen muss.

Den Gefühlen Stimme zu verleihen ist Ines Müller-Braunschweigs Part in der Inszenierung, mit der das Trio nunmehr seit 15 Jahren auf den Bühnen der Welt zu Gast ist. Sie, die „russische Seele“, lässt durch die Facetten ihrer Erzählkunst und durch das leise Anstimmen alter Volkslieder eine tiefe Schwermut und Sehnsucht aufleben. Man fühlt sich hineinversetzt in ein fremdes, dunkles Jahrhundert und spürt die Schwere des Lebens auf dem eigenen Gemüt. In lang eingespielter Zusammenarbeit gelingt es der Gruppe so, eine Welt auf der Bühne entstehen zu lassen, die den Zuschauer mitreist und bewegt.

Nun ist es leider oft so mit den Menschen, den Verbitterten, dass nur ein großer Verlust ihnen zeigt, was sie besaßen. Für Jakow ist es der Tod seiner alten Marfa. Was ihm nun noch bleibt ist seine Geige, auf der er so traurig und rührend das Lied seines Herzens spielt um der Einsamkeit zu entfliehen. Über allem steht Anton Tschechwo: sein Bild neben schwarzen Tüchern und einer Fuchsstola an der Wäscheleine. Er thront oben auf, und ja, irgendwie scheint er zufrieden.

Rotschilds Geige

Regie und Musik: Christiane Zanger

Spiel: Ines Müller-Braunschweig und Frank Soehnle

Premiere: 6. Januar 2011, Lindenfels Westflügel

www.westfluegel.de

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