Immer wieder zerschmeißen

Im Spinnwerk feierte Bert Brechts „unaufführbarer“ „Fatzer“ Premiere

Fragmentarisch wie die Vorlage: Michael Wehrens „Fatzer“-Inszenierung (Fotos: R.Arnold/Centraltheater)

Das Ganze, da ja unmöglich,
zerschmeißen
– zur Selbstverständigung.

Bertolt Brecht

Das beginnende, noch unschlüssige Umherflanieren der Besucher des Stücks Fatzer wird begleitet von einer gewissen Irritation. Keine Bühne, kein Vorhang, vielmehr eine raumfüllende Installation verbirgt sich hinter den Türen des Spinnwerks. Man schreitet über einen Kreidekreis am Boden, läuft über verwischende Worte wie „Lehre“, „Sexualität“, „Männerbande“, vorbei an Videoleinwänden, die vergangene Probenmomente wiederholen. Im ganzen Raum verteilt laden schwarze Sitzhocker zum Verweilen ein, zum Betrachten der anderen, der Szenerie oder der Galerie mit Schwarz-weiß-Photographien bekannter und weniger bekannter, vermeintlich asozialer Persönlichkeiten an der Wand. All diese Bruchstücke fügen sich im Laufe des Abends zu einer Inszenierung, welche ebenso fragmentarisch bleibt wie ihre Vorlage, Bertold Brechts unvollendetes Werk Fatzer.

Dieses Konvolut aus über fünfhundert Manuskriptseiten Dialogfetzen, Chören und Szenen-Entwürfen, das von Brecht selbst über Jahrzehnte hinweg immer wieder verändert und ergänzt wurde, erzählt die Geschichte des deutschen Soldaten Fatzer. Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges wartet er, versteckt in einem Keller, gemeinsam mit drei anderen Männern solange auf ein Ende des Krieges, auf die Revolution, bis die aussichtslose Lage, der Hunger, die Gier in gnadenlose Gewalt umschlagt. Trotz dieses scheinbar simplen Handlungsablaufs gelang es Brecht nie, seine gewaltige Materialanhäufung in eine geschlossene, dramatische Form zu überführen und notierte 1929 nur noch lakonisch “Fatzer unaufführbar”.

Regisseur Michael Wehren widersteht dieser Setzung und erhebt das Fatzer-Prinzip in seiner Inszenierung selbst zum Programm. Nicht nur das Textmaterial bleibt Fragment, auch der Bühnenraum erscheint fragmentiert, zusammengesetzt aus unterschiedlichsten Möglichkeiten Fatzer zu erfahren, wahrzunehmen und zu entdecken. Gerade die Black Box, eine klaustrophobisch enge Kammer, nur mit schwarzen Tüchern vom Umgebenden abgetrennt, bietet hierfür einen idealen Erfahrungsraum. Zersplittert in kleinere Gruppen wählen die Besucher Bruchstücke, Szenen und Chöre des Textmaterials aus und begeben sich in die Black Box, in den erdrückenden Keller des Fatzer, wo die Schauspieler bereits auf ihren Einsatz warten.

Das Ensemble spielt neben, zwischen den Zuschauern. Die Verausgabung, die Enge, die Aussichtslosigkeit der Situation werden durch die beklemmende Nähe, das empathische Spiel der jungen Darsteller körperlich spürbar. Die Spannung der sich durch die Rotation der verschiedenen Gruppen immer wieder neu zusammensetzenden Gemeinschaft löst sich auch im dritten oder vierten Durchlauf nicht auf.

Es bleibt dem Einzelnen nichts anderes übrig als sich zu den unterschiedlichen Situationen zu verhalten. Verändert man sein Verhalten, sein Denken, wenn man die stattfindende Szene bereits gesehen, schon einmal in einem der herumliegenden Probennotizen gelesen hat oder als Durchlauf einer anderen Gruppe durch die Videoeinspielungen verfolgen konnte?

Ein Fragment bleibt immer im Prozess, wird nie zu einem Abschluss finden oder in einer scheinbaren Ganzheit aufgehen. Ähnlich gestaltet sich der Abend: Es geht um das Ausprobieren, das Durchspielen, Andersspielen. Arbeit als Prozess. Fragment als Zusammensetzungsarbeit.

Die Erfahrung bleibt so immer auch bruchstückhaft, vereinzelt. Man wünscht sich mehr Zeit, mehr Durchläufe als eine Spieldauer von zweieinhalb Stunden zulassen, um noch unbekannte Szenen zu sehen, bereits erlebte neu zu betrachten, aus einer anderen Haltung heraus Momente anders, umzuwerten. Was letztlich bleibt, sind Fragmente, die jeder mit seinen Entscheidungen zusammensetzt oder – frei nach Brecht – ob der Unmöglichkeit eines Ganzen: wieder zerschmeißt.

Fatzer

Konzept u. Regie: Michael Wehren

Mit: Johannes Berger, Linda Escherich, Salya Föhr, Josephine Gehrt, Sophie Hierzie, Nicole Hitziger, Alexander Kirchner, Anna Pyka, Marcus Quent, Tobias Süß, Florian Tepelmann, Eva Vinke u. v. a.

Premiere: 21 Januer 2011, Spinnwerk

Weitere Aufführungen: 22. und 23. April


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