Mut und Weitsicht

Die szenische Erstaufführung von „Deutsches Miserere“ an der Oper Leipzig

Die Krieger von morgen: Der Kinderchor der Oper Leipzig (Fotos: Andreas Birkigt)

Am 12. 2. 1943 kam es in New York zur ersten längeren Begegnung zwischen Bertolt Brecht und Paul Dessau. Während dieser Begegnung entstand auch die Idee für Deutsches Miserere: „Wissen Sie, Brecht, ich möchte Sie doch auf etwas aufmerksam machen. Ich möchte so furchtbar gern etwas schreiben, eine Art deutsches Requiem, aber nicht so wie Brahms. Gar nicht, im Gegenteil. Aber so ein großes Miserere, ein deutsches Werk, das die ungeheure Tragödie unseres Vaterlandes schildert. Das interessierte ihn (Brecht) scheinbar enorm, und er fing an, nach Material zu suchen.“ (Paul Dessau im Gespräch mit Hans Bunge, dem Leiter des Brecht-Archivs, am 30.9.1958).

Zeitgleich mit der beginnenden Wende des Zweiten Weltkrieges, Ende Januar 1943 wurde die 6. Armee in Stalingrad endgültig vernichtet, beginnen die beiden Exilanten Brecht und Dessau die Arbeit an ihrem persönlichen Klagegesang. Die Arbeit dauert vier Jahre bis zum April 1947. Brecht verwendet für den Text zwei Gedichte aus dem Jahr 1933: „O Deutschland bleiche Mutter“ und „Sie tragen ein Kreuz voran“, die zunächst für Hanns Eisler entstanden waren. Im Weiteren benutzt Brecht Gedichte aus der Deutschen Kriegsfibel der Svendberger Gedichte und Epigramme aus seiner Kriegsfibel. Wie in Brechts epischem Theater üblich werden die Texte klar und ohne subjektive Deutung verwendet. Im Zusammenhang mit der Thematik des Stückes fast ein Anachronismus: Wie sollen die Schauspieler angesichts des Grauens unsentimental und persönlich möglichst nicht beteiligt eine Präsenz entwickeln?

Paul Dessaus Partitur liefert hier den emotionalen Kontrast dazu. Ein Miserere bezieht sich auf den 51. Psalm, das Bußgebet katholischer Liturgie steht seit jeher für Schuld und die Bitte um Sühne. Dessaus Partitur verwendet allerdings lediglich den Charakter der historischen Gattung, eine Art weltliche Adaption, ein Schuldbekenntnis des deutschen Volkes in der Hoffnung auf Vergebung. In der Besetzung fehlen die Violinen, Blas- und Schlaginstrumente sind mehrfach besetzt, das Trautonium, ein Vorläufer des Synthesizers, liefert entrückte, vibrierende Klangräume. Das Motiv des Eingangschores „O Deutschland bleiche Mutter“ durchzieht leitmotivisch das gesamte Stück, die dunklen Moll-Tonarten werden dissonant verfremdet, auch Anklänge an Zwölftonreihen sind zu erkennen. Dessaus Erfahrung im narrativen Illustrieren als Filmkomponist der Stummfilmzeit korrespondiert in spannender Weise mit Brechts trockenen Prosaversätzen.

Mit der szenischen Erstaufführung beweist die Oper Leipzig Mut und Weitsicht zugleich. Mut zu einem Stück, das in einzigartiger Weise Opfer und Täter gleichermaßen thematisiert, sich also gängigen Polarisierungen entzieht, Weitsicht angesichts der sich weltweit häufenden kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen tradierte Opfer-Täterbeziehungen nicht mehr anwendbar sind, und sich Konflikte nur durch eine differenzierte historische Betrachtung aufklären lassen.

Dietrich W. Hilsdorf und Dieter Richter haben die Bühne und den Zuschauersaal in einen ungerichteten Raum verwandelt. Quer durch das Parkett verläuft ein Steg. Chor und Solisten sind unter den Zuschauern, wenn sie diesen Steg entlang schreiten oder auch seitlich das Parkett betreten. Der eigentliche Bühnenraum hat den Charakter einer Fabrikhalle mit gebrochenem Licht durch zerbrochenes Glas einer riesigen Lichtdecke. Ungerichtet verlaufen Gleise über die Bühne.

Die ersten zwölf Minuten verlaufen ohne Musik, ohne Ton. Täter, Opfer irren durch die Szenerie, Wege kreuzen sich, werden versperrt. Täter werden mit Tätern, Opfer mit Opfern und Täter mit Opfern konfrontiert. Ohne Ausweg folgt auf jedes Ausweichen die nächste Konfrontation. Der Erinnerung kann man nicht entkommen. Hilsdorf schafft es, in den beiden ersten Teilen das Thema der kollektiven Erinnerung in einem allgemeinen Gestus darzustellen. Es wird aufgeräumt mit dem (naiven) Traum, die Vergangenheit „bewältigen“ zu können. Jedwede Art der kollektiven Vergangenheit lastet auf der Gegenwart.

Der dritte Teil weist dann aufs Heute und die Zukunft. Die Kinder des Opernkinderchores verweisen in Miniuniformen mit Holzgewehren auf zukünftige Kriege, im Wiegenlied verspricht die Mutter aber, sich besser um ihre Söhne zu kümmern. Szenisch aktuell lässt Hilsdorf dann unsere Bundesregierung auftreten, Blumen und Kränze werden für die ermordeten Zivilisten in Afghanistan niedergelegt. Ganz im Sinne Brechts/Dessaus nimmt Hilsdorf damit eine Vogelperspektive ein, die einen Versuch macht, mit der kollektiven deutschen Vergangenheit zu leben. Es ist eben etwas anderes, wenn die deutsche Bundeswehr am 4.9.2010 in Kunduz in einen Angriff auf afghanische Zivilisten verwickelt wird. Es ist ganz einfach zu berücksichtigen, dass In- und Ausland darauf in einer sehr sensiblen Weise reagieren – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Beim Auftritt der Bundesregierung kommt dann (endlich) eine Prise Humor ins Spiel, wenn es das Wolfgang-Schäuble-Double nicht schafft, mit dem Rollstuhl die Gleise zu überqueren.

Schauspielerisch und musikalisch wird der Abend vom hervorragenden Opernchor getragen, stimmlich auf höchstem Niveau erreichen die Frauen und Männer auch szenisch eine ungeheure Präsenz. Musikalisch haben es die Musiker des Gewandhausorchesters unter Alejo Pérez leider sehr schwer. Aus dem Orchestergraben können sich die dunklen Farben und getragenen Tempi der Partitur nur abgeschwächt entwickeln, das Schimmern subtiler Schlagzeugaktionen kann man nur noch erahnen, was den Gesamteindruck zum Glück nicht schmälert, da es der überpräsente Chor samt Solisten mehr als kompensieren kann.

Es ist wirklich eine große Leistung, welche die Oper Leipzig hier vorlegt. Fast 45 Jahre nach der Uraufführung des Stückes unter Herbert Kegel mit dem Rundfunkorchester Leipzig setzt das Team um Regisseur Dietrich W. Hilsdorf ein sehr deutliches Zeichen für den Umgang mit „schwierigen“ Stoffen. Die hohe Qualität der Regiearbeit dankt das Premierenpublikum mit einem selten erlebten, tief bewegten und lang anhaltenden herzlichen Applaus.

Deutsches Miserere

Versuch über die Möglichkeit zu trauern

Paul Dessau & Berthold Brecht

Szenische Erstaufführung

Oper Leipzig

Musikalische Leitung: Alejo Pérez

Inszenierung: Dietrich W. Hilsdorf

Mit: Katja Beer, Karin Lovelius, Dan Karlstràm, Peteris Eglitis, Gabi Dauenhauer

Chor und Kinderchor der Oper Leipzig

Premiere: 11. Februar 2011, Gewandhausorchester

Weitere Rezension zu „Deutsches Miserere“ von Ingo Rekatzky

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