Die Erotik des Textes

Auf der diesjährigen Buchmesse haben sich die Ereignisse nicht gerade überstürzt. Umso mehr stand das eigentliche Event im Mittelpunkt: Das Buch an und für sich

Bücher sind eben doch praktischer als E-Books (Fotos: F. Reif)

In diesem Jahr kamen rund 6.000 Besucher mehr ins Leipziger Messegelände als im Jahr zuvor – man hat sie alle gespürt. Zumindest am Samstag waren in den frühen Nachmittagsstunden die Hallen ziemlich voll. Aber was nimmt man nicht alles für die Liebe zum Buch auf sich? Und ist es nicht erfreulich, dass diese von so vielen Menschen geteilt wird?

Bei Parodos findet sich das Bändchen Beim Lesen der Gänsehaut (Robert Krokowski), das den schönen Untertitel trägt: Essay über das Erröten der Schrift. Fasst man „Erröten“ weniger als Ausdruck der Scham auf, denn als Hinweis auf die Erotik des Textes, dann ist das ein schöner Stichwortgeber für diese Buchmesse. Denn während es in der diesjährigen Ausgabe wenig Geschichten oder skurrile Situationen gab, über die wir stolperten, so fanden wir doch viele kleine attraktive Lektüren, die – mal halbverborgen, mal in der Masse versteckt – unser Interesse weckten. Einige von ihnen sollen hier aufgelistet werden.

Pop und Kultur

Wer hätte beispielsweise gedacht, dass der wirkungsmächtige Theaterkritiker Herbert Ihering (1888-1977) auch über Filme geschrieben hat? Hat er aber, wie der Band mit dem simplen Titel Herbert Ihering. Filmkritiker zeigt: Er versammelt Iherings verstreute Film-Texte und macht sie leicht zugänglich (Edition Text + Kritik). Vom viel zu früh gestorbenen Musikjournalisten Martin Büsser (1968-2010) ist nun eine Sammlung seiner popkritischen Texte zum raschen Zugriff erhältlich (Ventil Verlag). Möge seine verklungene Stimme noch viele erreichen.

Kennen Sie Folker? Kannten wir bis zur Buchmesse nicht. Aber das Magazin für Folk- und Weltmusik überraschte uns als kundiges Kompedium für die musikalische Nische mit interessanten Porträts und natürlich CD-Besprechungen. Dass Volksmusik nicht konservativ, hinterwäldlerisch oder pausbäckig daherkommen muss, beweist der Carus Verlag: Das Buch mit dem schlichten Titel Volkslieder stellt viele bekannte Klassiker vor, enthält eine Mitsing-CD und ist mit sehr originellen Illustrationen gestaltet. Schräg statt heimelig geben sie Szenen aus den Liedern pointiert wieder (Carus Verlag). Und genauso freuen wir uns über die Kreator-Bandbiografie Violent Evolution, die die Urgesteine der deutschen Trash-Metal-Szene in Wort und Bild feiert (Hilmar Bender, Ubooks). Etwas traditioneller ist Schwiizer Chinderlieder und Versli aufgemacht – weniger wertvoll ist die Sammlung dadurch freilich nicht (Bohem).

Zaubermaschinen

Verblüfft waren wir über zauberhafte Papiermaschinen. Die mechanischen Skulpturen zum Selbermachen besitzen jeweils eine Kurbel, über welche man die Apparate in Bewegung versetzen kann: So wankt das Bötchen auf hohem Wellengang, die Piratenbraut will sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden müssen und der Feuerdrache schnappt nach unvorsichtigen Fingern (Walter Ruffler). Die Sorgen anderer seltsamer Wesen können ab Vierjährige und ihre Eltern mit Monster gibt es nicht miterleben: Ein Monster schickt sich an, die Welt von seiner Existenz zu überzeugen und scheitert natürlich zunächst (Kerstin Schoene, Bajazzo). Ernsthafter ist die Auseinandersetzung mit Monstern, in diesem Fall genauer mit Zombies, im Fall von Untot, einem Band der Aufsätze zur Theorie und Geschichte des Zombiefilms versammelt (Michael Fürst et al., Bellville).

Wie schreibt sich eigentlich die Geschichte des Aquariums? Bei Bernd Brunners Wie das Meer nach Hause kam ist genau das zu erfahren (Wagenbach). Ein pikant und obendrein aus Versehen vegetarisch ausgefallenes Kochbuch für Kinder liegt mit Südamerikanisch kochen! vor (Ana Maria Pavez et al., Kinderbuchverlag Wolff). Bücher sind aber nicht nur Wissens- sondern auch Unterhaltungsmaschinen. Im Bereich Belletristik freuen wir uns deshalb besonders über Marc Buhls neuen Roman Das Paradies des August Engelhardt (Eichborn). Die erschütternden Ereignisse beim Genozid in Ruanda versucht der Roman Murambi. Das Buch der Gebeine fassbar zu machen (Boubacar Boris Diop, Hamouda). Einer zum Glück noch ausstehenden Katastrophe nimmt sich Hydromania an: Nach einer anhaltenden Dürre beginnt die globale wie gnadenlose Jagd nach Wasser (Assaf Gavron, Luchterhand). Mit kleinen Prosaminiaturen stichelt [teer]. Notizen aus der Bodenhaltung (Anja finger, Herold Media) gegen Zeitgeistphänomene wie Hello Kitty und den Papst bei Facebook. Schwarze Schatten liegen über der Urlaubsidylle Südtirols in Mareike Krügels Roman Bleib wo du bist (Schöffling & Co.).

In eine vergangene Welt abtauchen lässt sich mit Schöner unsere Paläste!, das Fotografien von Berlin zwischen 1978-1998 versammelt – fotografiert von Gerd Danigel (Lehmstedt Verlag). Eine andere Epoche lässt sich in Marianne Breslauers (1909–2001) Oeuvre begutachten, denn Marianne Breslauer: Fotografien atmet den Geist der 1920er Jahre (Nimbus).

Reiseproviant

Reisen kann auch schon im Vorfeld der Reise bilden – die angemessene Lektüre vorausgesetzt. Island, der Frankfurter Buchmesseschwerpunkt, ließ auch in Wiederitzsch schon etwas durchblicken. Andri Snær Magnason berichtet in seiner schmissigen Rundumkritik Traumland: Was bleibt, wenn alles verkauft ist?, wie der Raubtierkapitalismus in wenigen Jahren das Land der Geysire zum Eiland der Staudammprojekte und der Metallindustrie machte – und zählt die Folgen auf (Orange Press). Supposé treibt sein Projekt, das erzählte Wort als eigene Kunstform herauszustellen, weiter voran und legt ein Stück postmoderne Oral History vor. Die Saga von Njáll und Die Saga der Leute aus dem Lachsflusstal sind mündlich überlieferte Geschehnisse aus der Anfangszeit der isländischen Gesellschaft. Die Ereignisse um eine folgenreiche Ohrfeige, Liebeshändel und eine Familienfehde werden von deutschsprechenden Isländern erzählt (supposé). Mit mehr Gegenwartsbezug, aber nicht ohne Zauberkraft, warten die Bilder des Nordens von Island über die Shetlands und Norwegen bis nach Spitzbergen auf, die in Terra Borealis versammelt sind (Marco Paoluzzo, Benteli). Mit Beredter Norden legt die Edition Rugerup eine üppige Anthologie schottischer Lyrik der vergangenen 110 Jahre vor – und das wunderbarerweise zweisprachig. So kommen 65 DichterInnen in mehr als 120 Lyreleien zu Wort und bezeugen – einem ersten Durchblättern zufolge – eine bildreiche Vielfalt. Ein gleichsam anthologisches Projekt stellt die virtuelle Ostseebibliothek Baltic Sea Library dar. Das anwachsende Onlinearchiv vereint Literatur, die mit der Ostsee verbunden ist, und schafft einen Reflexionsraum über selbige in Form von Hintergrundinformationen und Essays. Das ist eine schöne Idee, die oft zitierte Grenzenlosigkeit des WWW auf die Literatur bezogen zu verwirklichen. Der Ostsee und der Küste verbunden ist der Demmler-Verlag, neu erschienen ist dort in der Reihe von Rolf Reinicke der Titel Kliff und Strand, in dem der Geologe und Fotograf die verschiedenen Küstenformen vorstellt.

So mystisch wie im Norden kann es übrigens auch im Süden zugehen. Kraftort Jungfrau – ein Titel, der von Bergmuffeln sicher falsch verstanden wird – ist ein Bildband, der sich Eiger, Mönch und Jungfrau widmet und dabei die regionale Geschichte, die dortigen Mythen und die Anziehungspunkte für Touristen mit einbezieht (Pier Hänni, Zytglogge). Etwas speziell – oder vielleicht auch extrem – mutet auf den ersten Blick embrüf, embri – Die Heimkehr der Schafe an. Für diesen Bildband haben der Journalist Michael T. Ganz und der Fotograf Thomas Schuppisser den Schafabtrieb vom Aletschgletscher über steile, steinige Berghänge begleitet (hier + jetzt).

In die Vergangenheit reist man mit Das Thüringer Koch- und Backbuch der Johanne Leonhard. Mit diesen Rezepten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich tatsächlich mal Thüringer Klöße „wie früher“ herstellen (Michael Kirchschlager, Arnstädter Verlag). Eine ganz andere Sicht auf Geschichte entfaltet sich in Ein Haus erzählt, das die Ereignisse in der Toskana seit 1656 aus der Perspektive eines – man ahnt es – Hauses erzählt: Mit herrlichen Illustrationen von Roberto Innocenti und poetischen Versen von J. Patrick Lewis, die Mirjam Pressler übersetzt hat (Sauerländer). Räumlicher wie zeitlicher Natur ist das Reiseerlebnis bei Die Vögel Mitteleuropas, die Johann Friedrich Naumann zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts erforschte, präparierte und aquarellierte und die Arnulf Conrad schon im letzten Jahr herausgab (Eichborn). Die Bruttoglobaltournee treibt den Leser und die Leserin – wie der Titel schon nahe legt – gleich um die ganze Welt. Autor Gerhard Waldherr spürt in Reportagen den eher weniger bekannten Phänomenen in der globalisierten Welt auf (Salis). Gar nicht ums Reisen geht es dem zynischen Menschenschlag, der in Jens Westerbecks Roman mit dem ebenfalls zynischen Titel Boatpeople dargestellt wird: Diese Leute geben viel Geld für Boote aus, mit denen sie dann angeben können – aber nur im Hafen (Tivi bei AMA).

Diese Aufzählung ist gewiss alles andere als vollständig. Wir mögen an großartigen, klugen, schönen Büchern vorbeigelaufen sein, an die wir uns jetzt nicht mehr erinnern, weil zu viele Eindrücke diese Erinnerung nunmehr überlagern. Vielleicht schlummern diese Titel noch in den Bergen von Katalogen, die sich nun Zuhause stapeln und die kein Mensch innerhalb so kurzer Zeit gewissenhaft durchblättern kann. Aber wir behalten die Worte von Jean-Henri Fabre aus seinen Erinnerungen eines Insektenforschers im Herzen: „Das Glück hat seine entomologische Launen: Man läuft ihm hinterher und erreicht es nie; man vergisst es, und es klopft an die Tür.“

Buchmesse Leipzig 2011

17.-20. März, Messegelände

www.leipziger-buchmesse.de

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