Manege frei für die Kunst!

Das Lofft zeigt mit „Le Funambule – Der Seiltänzer“ pure Kunst ohne Zweckgebundenheit

Ein klassischer Fall des L’art pour l’art. (Bild: Thomas Xaver Dachs / Lofft)

Was haben ein Obdachloser und ein Hochseilartist gemeinsam? Sie sind Überlebenskünstler, haben den Abgrund stets vor Augen – jeden Moment könnte alles aus sein. Ganz dicht am Abgrund bewegt sich am 1. April im Leipziger Lofft Felix C. Voigt in Le Funambule – Der Seiltänzer. Er kriecht aus einem zwischen bunten Plastiktüten und zerdrückten Einwegpfandflaschen liegenden Regenfass. Die Bühne eine Müllhalde. Voigt gleicht, bekleidet mit blauen Leggins, einem hautengen Pullover der gleichen Farbe und einer olivgrünen Parka, einem verwahrlosten Obdachlosen. Seine Haare sind zerwühlt und er scharrt sich. Wahrlich kein schöner Anblick, dieses Häufchen Elend! Wie ein Irrer führt sich der Namenlose auf der Bühne auf: Spricht mit den imaginären Gestalten Jean und Michele, bricht kreischend vor Lachen zusammen, zappelt wild auf dem Boden. Hetzt er im einen Moment wie wild über die Müllhalde, ist er im nächsten gebrechlich, muss sich auf einen Gehstock stützen. Schizophrenie? Vielleicht – aber vor allem Kunst! Denn Felix C. Voigt rezitiert voller Inbrunst Jean Genets Gedicht Der Seiltänzer.

Das Gedicht handelt von einem jungen Hochseilartisten, in den sich der homosexuelle Genet in den fünfziger Jahren verliebte. Die Verse ehren die Kunst des Seiltanzes, spiegeln gleichzeitig seine Gefahr und lehren den Künstler eine Grundregel: „Nein, nein und abermals nein, Du kommst nicht, um das Publikum zu unterhalten, sondern um es in Deinem Zauber zu fangen!“

Und genau so funktioniert Nora Ottes Inszenierung Le Funambule – Der Seiltänzer. Ein klassischer Fall des L’art pour l’art. Wer krampfhaft nach einer Botschaft sucht, der findet: „Das Leben ist ein Drahtseilakt“ sei nur als Beispiel genannt. Viel mehr aber richtet sich das Stück an diejenigen, die sich einfach an einem kleinen Glanzstück erfreuen wollen – ohne Sinn und Zweck, nur um der Kunst Willen.

Es ist überwältigend, wie Felix C. Voigt das Aufnahmeband aus einer Kassette zieht und damit die Begrenzungspfeiler des Bühnenraumes umwickelt. Was dabei entsteht, ist das Gerüst eines Zirkuszelts, aus dessen Dach der Künstler – mittlerweile auf dem Regenfass stehend – heraus späht. Die Müllhalde verwandelt sich in eine Manege, der Obdachlose wird zum Artisten.

Noch nicht genug Kunst? Manfred Peter vertont Voigts Schauspiel. Anstatt für den Zuschauer unsichtbar an einem Mischpult, sitzt er dabei am Rand der Bühne und schafft sein eigenes Kunstwerk. Mit einfachsten Mitteln begleitet er den Aufstieg und Fall des obdachlosen Artisten. Als Instrumente nutzt er Banjo, E-Gitarre und ein zum Pfannenorchester zweckentfremdetes Küchenset. Mal tippt Manfred Peter sanft mit einem Metallstäbchen auf das Pfannenorchester, mal lässt er gekonnt eine Murmel den Gitarrenhals entlang rollen und erzeugt damit einen einzigartigen Sound. Peters einziger nicht-musikalischer Kontakt zu Voigt ist der Wurf einen Glückskekses in die Mitte der Bühne. Dessen Botschaft: „Man ist kein Künstler, wenn nicht ein großes Unglück mit im Spiele ist.“ Ob sich dieses in Gestalt eines Sturzes vom Seil oder als Geisteskrankheit äußert, spielt keine Rolle.

Während Voigt zwischen Schwachsinn und Körperbeherrschung balanciert, kritisiert er ganz beiläufig die Bretter, die die Welt bedeuten: Theaterstücke werden wie die Hauptvorstellung im Zirkus meist am Abend aufgeführt; am Ende eines Tages, wenn den meisten Zuschauern schon die Müdigkeit über die Augenlider rollt. Der Unterschied zwischen den beiden sei, dass der Zirkus die gesamte Aufmerksamkeit, vollständige Konzentration vom Zuschauer verlangt. Im Theater hingegen, sei zu oft nur der Schauspieler völlig bei der Sache, während das Publikum döst und sich am liebsten berieseln lässt. Vielleicht hat Felix C. Voigt recht … Für den Zauber von Theaterkunst jedenfalls, der in Le Funambule – Der Seiltänzer steckt, konnten sich an diesem Abend ganze vier Zuschauer vom Sofa aufraffen.

Le Funambule – Der Seiltänzer

R.: Nora Elfriede Otte

Mit: Felix Constantin Voigt

Musik: Manfred „Manol“ Peter

Premiere: 24. März 2011, Lofft


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