Innenansichten

Mathilde Lehmann und Jasmina Rezig zeigen im Spinnwerk ihr Regiedebüt „White Box“

Wie ein Suchen nach Fehlern im Zusammenleben der Menschen (Fotos: R.Arnold/Centraltheater)

Das Leben der Menschen lässt sich idealerweise so umreißen: Schule, Arbeit, Ehe, Kinder. Hier und da mal ein Auf und ein Ab, nichts wirklich Sonderbares. Alles ganz normal also, oder doch nicht? Die Frage nach der Normalität und Realität des Zusammenlebens stellen sich die beiden jungen Regisseurinnen Mathilde Lehmann und Jasmina Rezig in ihrem Stück White Box auch. Und der Name scheint Programm, wenn man sich die Bühne ansieht: Zu drei Seiten hin umrandet mit weißen Wänden, entsteht der Eindruck einer geschlossenen Enge, deren Grenze dann mit dem Zuschauerraum verschmilzt, wenn die Schauspieler achtlos auf den Stuhllehnen entlang balancieren und damit dem sonst passiven Beobachter seine Teilhabe am Geschehen deutlich machen.

Nicht nur optisch soll es der Zuschauer an diesem Abend mit einer White Box zu tun haben. Auch der Inhalt des Stückes scheint angelehnt an den sogenannten White-Box-Test, bei welchem Fehler in den Teilkomponenten (unter anderem von Programmen) und die interne Funktionsweise aufgedeckt werden sollen. Wie ein Suchen nach Fehlern im Zusammenleben der Menschen wirkt das Stück, deckt dabei aber leider zu viele Klischeebilder menschlichen Verhaltens ab, die zwar beabsichtiget überzeichnet werden, aber dennoch überladen wirken.

Meeresrauschen und Vogelgezwitscher erfüllen den abgedunkelten Raum. Klänge die den Mündern der Darsteller selbst entspringen und doch, oder gerade deshalb, beeindruckend räumlich wirken. Zehn Menschen, gekleidet in Schlafanzüge und Nachthemden, die Haare obligatorisch zerzaust, toben, jagen, tanzen über die Bühne. Diese zehn Menschen, namentlich Nummer 1 bis Nummer 10, befinden sich – wie Gummipalme und weißer Sand vermuten lassen – auf einer Insel. Einem Ort, der klar abgegrenzt ist, sich nur von Küste zu Küste erstreckt und „am Meer aufhört zu sein“. Dort leben sie zusammen, ausgebrochen aus einer Gesellschaft, in die sie nie hineinpassten. Denn Nummer 1 bis Nummer 10 sind Patienten einer Nervenheilanstalt, bis sie, wie ein Videoeinspieler zeigt, aus dieser ausbrechen und ein neues Leben auf einer Insel beginnen. Ob sich das Dargestellte dabei lediglich in den Köpfen der Protagonisten abspielt, kann man letztlich nur vermuten, oder für sich selbst bestimmen. Doch steht das Bild der Insel zweifelsohne für einen Ort menschlichen Zusammentreffens, an dem viel Konfliktpotenzial zu Tage gefördert werden kann.

Die Gruppe ist – was psychische Störungen angeht – bunt durchwachsen. Von antisozialen Persönlichkeitsstörungen über Burn-Out-Syndrom und Halluzinationen bis hin zur sozialen Phobie ist alles vertreten. Leider sind die Auswüchse der Krankheiten die einzigen Ereignisse, die die spärlich ausgestattete Handlung vorantreiben. Doch die Szenen sind bildlich wunderbar umgesetzt. Nackte Füße tapsen über den blanken Boden, verlieren sich im Tanz; die Gruppenmitglieder scheinen teilweise ein sehr inniges Verhältnis zu haben, was man dem Spiel der Darsteller gern abnimmt. Sehr vertraut schmiegt sich Nummer 9 (Rinaldo Steller) immer wieder schutzsuchend an Nummer 4 (Lisa Byl), und wenn Nummer 3 (Rosa Tauobi) sich fast schwebend zu Elektobeats bewegt, dann wirken die Szenen in sich wunderbar geschlossen. Nur an einer Komposition des Ganzen mangelt es. Die Beziehungen der einzelnen, sehr gut gearbeiteten Elemente, wirken nicht flüssig, so dass am Ende nur ein unfertiges Konstrukt bleibt.

Wenn man einfach ausbrechen könnte, aus seinem Leben, was schiene dann paradiesischer als eine Insel, fernab von Alltagstrott und Zivilisation? Doch ist – und das scheint eine zentrale Aussage von White Box zu sein – selbst ein Ausbruch aus der alten Welt am Ende immer nur eine „Rückkehr in die Wiege der Realität“. Ein Ausbruch jedenfalls schafft noch lange kein Neoparadies.

White Box

Regie: Mathilde Lehmann & Jasmina Rezig
Mit: Hannes Berger, Lisa Byl, Tom Hennig, Mila Kragh, Clara Nunes, Nastasia Oppermann, Rinaldo Steller, Felix Streubel, David Strzelczyk & Rosa Taoubi

Premiere: 8. April 2011, Spinnwerk

Weitere Aufführungen: 25. und 26. Mai


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