Konzert ohne Eigenschaften

Beim Großen Concert mit Semyon Bychkov klappert solide das Handwerk, der Esprit jedoch fehlt

Dirigent Semyon Bychkov (Foto: Thomas Kost / www.semyonbychkov.com)

Luciano Berio über Rendering: „Gelegentlich finden sich in den Entwürfen (Schuberts Skizzen zu einer zehnten Sinfonie), welche hauptsächlich in Form eines Klaviersystems notiert sind, auch Instrumentationshinweise. Diese sind jedoch meist in Kurzschrift geschrieben und mußten vor allem in den mittleren und den unteren Stimmen ergänzt werden. Die Orchestrierung folgt jener der Unvollendeten, aber während die offensichtlich schubertschen Klangfarben erhalten blieben, zeigen sich in der musikalischen Entwicklung der Komposition Episoden, die sich an Mendelssohn anzunähern scheinen und die Orchestrierung möchte dies widerspiegeln.“

Mit Rendering wagt Luciano Berio eine Restaurierung der zehnten Sinfonie von Franz Schubert. Auf Grundlage der überlieferten Skizzen geht er eine posthume Co-Autorenschaft ein. Ein sehr ambivalentes Unterfangen! Schuberts Hinterlassenschaft besteht nur aus Entwürfen, es fehlen wesentliche Teile für eine ausgewachsene Sinfonie. Berio sagt, er möchte nicht rekonstruieren, wie auch angesichts der Tatsache, dass wesentliche Grundlagen eines Gesamtwerkes noch gar nie vorlagen. Er spricht deshalb von Restaurierung der Skizzen, versucht aber gleichzeitig auf der Grundlage subjektiver Ahnungen die Skizzen im Sinne Schuberts und des aus heutiger Sicht angenommenen Zeitgeistes/Zeitgeschmacks die Sinfonie zu vervollkommnen.

Man spürt deutlich die Brüche und Widersprüche der Entstehungsgeschichte dieser Musik. Fragmentarische Entwicklungen Berios wechseln sich mit den von Berio vorgenommenen „Restaurierungen“ ab. Irgendwie bleibt eine Leere zurück, wo sind die originären Ideen dieses Stücks? Semyon Bychkov gelingt es in seiner Interpretation leider auch nicht, der Partitur von Rendering etwas Neues und Faszinierendes hinzuzufügen. Sehr schnell geht er den ersten Satz an, das Ende wird vom Orchester geradezu verschluckt. Das Fragmentarische im zweiten Satz steht ohne Dynamik im Raum. Der bestimmende romantische dritte Satz gelingt besser, hier in den vertikalen vertrauten Strukturen schreitet das Gewandhausorchester auch selbstbewusst aus.

Pause.

Der Gewandhauschronist Alfred Doerffel über die zweite Aufführung der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms am 10. Januar 1878 im Gewandhaus zu Leipzig: „Wir stellen andere Anforderungen an Brahms und verlangen mehr als ‚hübsche’ und ‚sehr hübsche’ Musik von ihm, wenn er als Symphoniker uns entgegentritt, … Geniales haben wir auch in der neuen Symphonie nicht entdeckt … , sondern einfach die große Beherrschung der Form, die äußerst geschickte Handhabung der Darstellungsmittel, kurz, die bedeutende Kraft der Gestaltung anerkannt; dagegen die Kraft der Erfindung als nicht erheblich bezeichnet, das Werk im ganzen zwar als beachtenswert, doch nicht als zählend für den Bereich der Symphonie gekennzeichnet.“

Man muss leider konstatieren, dass die heutige Interpretation Semyon Bychkovs der drastischen Kritik Alfred Doerffels Wasser auf die Mühlen leitet. Ideenlos arbeitet Bychkov die Partitur ab, betont allgemeine Kontraste, so gehen die Zusammenhänge verloren im immer gleichen piano – forte. Brahms Sinfonie droht sogar aus der Form zu geraten in der Verstärkung von Unterschieden. Das Resümee des Abends vielleicht im reziproken Sinne doch positiv: nur starke Ideen vermögen einen Konzertabend zu einem Erlebnis werden zu lassen, gutes Handwerk und allzu starkes Restaurieren von historischen Ideen können heutigen Esprit nicht ersetzen.

Großes Concert – Serie II/5

Franz Schubert/Luciano Berio: Rendering per Orchestra

Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 2 D – Dur op. 73

Dirigent: Semyon Bychkov

Gewandhausorchester

15. April 2011, Gewandhaus Großer Saal


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