Du siehst etwas, was er nicht sieht.

Nicole Seiler lässt in „Playback“ Körper und Bewegung sprechen

„Playback“ zielt auf Kopfkino (Fotos: Nicole Seiler)

Als der Zuschauer am 8. Mai den Lofft-Saal betritt, schallt ihm ein Medley aus bekannten Popsongs entgegen. Wo eben noch laute Musik ertönte, herrscht im nächsten Moment absolute Stille. Der Bühnenraum wirkt plötzlich steril: eine weiße Wand, weißer Boden, weiße Kostüme der Darsteller und ein Wechselspiel von Schwarz und Weiß auf der Leinwand. Die Songs werden nicht mehr angespielt, nur noch ihre Titel werden auf die Videowand projiziert.

Man könnte sich darauf einlassen, eine völlig fremde, unschuldige, nicht von Geräuschen überflutete Welt zu betreten – wäre da nicht das andauernde, schrille Lachen zweier Damen aus dem Publikum. Sie kichern über jede unnatürliche Bewegung der Schauspiel-Tänzer, über jeden auf die Leinwand geschriebenen Songtitel, über jeden Versuch, ein Wort heraus zu bekommen.

Als eine in ein rosa Kleid gehüllte Sängerin verzweifelt versucht, dem Text ihres Liedes Laute zu geben, aber nicht über leises Krächzen heraus kommt, erzeugt dies bei dem einen vielleicht Mitleid und Entsetzen, bei den beiden Damen offensichtlich Slapstick-Komik. Eines ist klar: In Playback sieht jeder das, was er sehen will. Theater oder Mario Barths Stadien füllende Samstagabend-Comedy – die beiden Damen sehen offensichtlich Letzteres.

Doch eines muss man ihnen lassen: Das Phänomen Kopfkino scheint bei ihnen besonders ausgeprägt zu sein. Und genau darauf zielt Playback ab. Hier gilt es, Segmente zusammen zusetzen, Assoziationen zu verdichten und sich selbst einen individuellen Abend zu kreieren. Man bekommt nichts serviert – keinen Text, keine Handlungsabfolge, kein Deutungsschema. Es ist am Zuschauer, zu entscheiden, ob er die Szenen als Einzelstücke witzig finden will, oder das Stück als Gesamtkomplex zu fassen versucht. Dieser fordert zwar gelegentlich zum Schmunzeln auf, ist jedoch alles andere als lustig.

Denn aller Wortabstinenz zu Trotz kommt Nicole Seilers Stück am Kratzen an einer Aussage nicht vorbei: In unserer Zeit geht nichts über das Wort. Von Individuen, denen man die Sprache geraubt hat wird hier versucht, das Wort darzustellen oder viel mehr das zu beschreiben, was ein Wort nicht beschreiben kann: Den Entstehungsprozess, der hinter ihm steht. Der Körper wird zum Souverän der Sprache, denn er kann eines schlechter als sie: Gefühle verbergen. Empfindungen unverfälscht zum Ausdruck bringen – genau das ist seine Stärke.

In Playback passiert dies mal im engen Wortsinn und mal abstrakt. So stehen alle sechs Akteure bei der Projektion des Wortes „Décibel“ nebeneinander in einer Reihe und gehen zeitversetzt, asynchron in die Knie. Dem Wort „Kiss“ hingegen nähert man sich verschlüsselter, auch poetischer: Zwei auf dem Bauch liegende Menschen begeben sich epileptisch zuckend und vor Anspannung bebend aufeinander zu, bevor sich ihre Lippen langsam berühren und der Körper zur Ruhe kommt.

Eine Zeit lang ist das Pantomime-Spiel aufregend, entspricht es ja so gar nicht unseren Sehgewohnheiten. Doch das Stück zieht sich in die Länge, die eigene Konzentrationsbereitschaft sinkt und alles plätschert so dahin. Wer sich nicht von Anfang an daran gemacht hat, sich ein Gedankenkonzept zu stricken, dürfte nun keine Chance mehr dazu haben. Man kann sich nur noch von den Schattenspielen überwältigen lassen und versuchen, herauszufinden, was real ist und was ein Abbild. Wenn sich die Schatten der Schauspieler durch die Technik einer Infrarot-Kamera doppeln und eben so plastisch wirken wie das Original, wodurch ein Film parallel zum tatsächlichen Bühnengeschehen entstehet, ist das vor allem eine Augenweide. Man lässt sich überwältigen von der Ästhetik des menschlichen Körpers – auch, wenn das eigentliche Phänomen die Technik dahinter ist.

Das Ersetzen von Sprache durch Mimik, Gestik und Bewegung – es ist ein gewagtes Experiment, auf das sich Nicole Seilers Compagnie hier einlässt. Wenn die Alternative zur geräuschüberfluteten Welt das ist, was das Stück darstellt, nämlich eine Irrfahrt durch Fragmente, ist es wohl besser, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Dann bleibt die Welt der Zeichen so emotionslos und kalt, wie sie durch Stereotypisierung von Wörtern gemacht wurde. Funktionalität vor Emotion.

Tanzoffensive 2011 – Festival für aktuellen Tanz

7. – 14. Mai 2011


Playback

Eine Produktion der Compagnie Nicole Seiler in Koproduktion mit Théâtre Arsenic Lausanne, Nuithonie Villars-sur-Glâne, Dampfzentrale Bern, La Bâtie Festival de Genève.

Choreographie: Nicole Seiler

Mit: YoungSoon Cho Jaquet, Anne Delahaye, Sun-Hye Hur, Christophe Jaquet, Stéphane Vecchione, Philippe Chausson

Gastspiel: 8. Mai 2011, Lofft


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