„Wenn du Monotonie vermeiden willst, wiederhole das Element“

Minimal Music und energiegeladener Tanz: Anne Teresa de Keersmaekers „Rain“ in der Opéra national de Paris

Körperliche Höchstleistung (Fotos: Steffen Kühn)

Im Jahr 1982 stellte Anne Teresa de Keersmaeker ihr zweites Stück vor: Fuse nach Musik von Steve Reich. Fuse war extrem erfolgreich und markiert den Karrierebeginn der Tänzerin und Choreografin. Es war sicher kein Zufall, dass sich de Keersmaeker schon ganz am Anfang ihrer Arbeit der Neuen Musik zuwandte, als Tänzerin und Choreografin bevorzugt sie die Fokussierung auf die Musik. Musik war ihr Generator für hochgeladene, extrem physische Choreografien. Steve Reich dazu als Vorlage zu verwenden, ist ein stetes Element ihrer Arbeit geworden. 1998 schafft sie mit Drumming nach Musik von Reich ein weiteres kraftvolles Stück.

Mit Rain kehrt sie 2001 wieder zu Steve Reich zurück. Das Stück entstand für de Keersmaekers Company Rosas, in die Oper Paris wurde de Keersmaeker nun von der hiesigen Ballettdirektorin Brigitte Lefèvre eingeladen. Die Vorlage von Steve Reich Musik für 18 Musiker ist ein energiegeladenes Stück von einer und ein Viertel Stunde, vier Flügel, fünf Xylo- und Vibraphone, die Solisten an Violine, Cello und Blasinstrumenten werden durch zwei Sängerinnen ergänzt. Das Stück ist hochkonzentrierte Minimal Music, einen Dirigenten braucht die rhythmisch fast manisch programmierte Partitur nicht, digital laufende Uhren übertragen heute Reichs Tempo in roten Lettern für das gesamte Ensemble.

Die Musik lebt vom Überlagern sich nur minimal veränderter musikalischer Ideen, endlose Wiederholungen kleinster Elemente generieren beinahe rauschhafte Zustände. Luigi Snozzi, italienischer Architekt, hat einmal gesagt: „Wenn du Monotonie vermeiden willst, wiederhole das Element“. Reich folgt dieser Sicht mit musikalischen Mitteln auf grandiose Weise, freilich nicht ohne an die Musiker extreme Anforderungen zu stellen, bis zu 30 Minuten lang wiederholen die Musiker kleinste immer gleiche musikalische Elemente, körperliche Höchstleistung ist das, in den Pausen treten einige Schlagzeuger sich den Nacken massierend etwas zurück, das geht so weit, dass ein Pianist zehn Minuten unter seinem Flügel auf dem Rücken liegend wieder Kraft schöpfen muss für den nächsten Einsatz.

Da ist schon so viel Energie drin, wie soll man dazu noch tanzen? Über den hellen Bühnenbelag verlaufen abstrakte geometrische farbige Markierungen, sie dienen sicher der Orientierung der Tänzerinnen und Tänzer, erinnern aber auch an abstrakte Malerei von Kasimir Malewitsch, auf dieser Ebene korrespondieren sie in wunderbarer Weise mit dem Deckengemälde von Marc Chagall, welches das imposante vor Gold strotzende Pariser Opernhaus ins heute holt.

Die Akteure bestehen aus den Solisten des Ballettensembles der Pariser Oper, zehn Damen und Herren in hellen, legeren Kostümen. Die Choreographie bedient das Ensemble und die einzelnen Charaktere gleichermaßen, aus weichen Bewegungen werden kraftvolle Aktionen. Wie in der Vorlage Reichs kehren Elemente loopartig wieder. Immer will etwas aufbrechen, wird vom Ensemble aber sofort integriert. Der Abend lebt vom Ausdruck und der Intensität – nicht von sportlicher Präzision. Von den Zehen bis in die letzte Haarspitze strahlen die Tänzerinnen und Tänzer etwas Helles und Fröhliches aus, heiter im Aufgehen und Ausleben in der Musik Reichs. Da ist nichts hinzuerfunden, da soll nichts erzählt werden – musikalische und physische Bewegungen in reinster Form. „Wenn du Monotonie vermeiden willst, wiederhole das Element“ – Komponist, Musiker und Ballettensemble arbeiten nach dieser so einfachen und doch im Detail so komplizierten Sichtweise. Das Ensemble ICTUS ist hochkonzentriert und erreicht eine musikalische Präzision, welche die Luft im Saal zum flimmern bringt. Die Tänzerinnen und Tänzer folgen der klaren Choreografie de Keersmaekers, Emotionen ja, aber in präzis abgesteckten Grenzen, überragend auch wie sie die kaum spürbaren Beschleunigungen der Musik aufnehmen und physisch übersetzen. De Keersmaeker hat mit ihrer zutiefst musikalischen Sicht ein berührendes Gesamtkunstwerk geschaffen. Wo Minimal Music auch mal anstrengt, schichtet de Keersmaeker sensibel spannende Bilder unter, wo Minimal Music Strukturen verliert nimmt die begnadete Choreografin die Fäden wieder auf. Minimal Music und die künstlerische Welt de Keersmaekers scheinen wie füreinander geschaffen zu sein.

Rain

nach Steve Reichs Musik für 18 Musiker

Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker

Bühne und Licht: Jan Versweyveld

Kostüme: Dries Van Noten

Musikalische Leitung: Georges-Elie Octors

Ensemble ICTUS und Vokals

3. Juni 2011, Opéra national de Paris – Palais Garnier


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