Versuch über den Müßiggang

Peter Handke verzettelt sich in seiner neuesten Erzählung. Das ist schade, denn der Text hat Potenzial

Seit 1966 vergeht kaum ein Jahr ohne ein neues Buch von Peter Handke. Dieses Jahr dürfen die Leser Handkes einem namenlosen Schauspieler, der einen anscheinend bereits grimmig vom Buchumschlag entgegenblickt, beim Müßiggang begleiten. Die Erzählung, die einen Tag im Leben des Schauspielers abbildet, beginnt frühmorgens, wenn der Schauspieler noch im Bett liegt, neben ihm eine mehr oder weniger fremde Frau. Etwas später, nachdem das Morgengewitter eingesetzt und die Frau das Haus verlassen hat, beginnt der Schauspieler seine Wanderung vom naturbelassenen Umland aus mitten ins metropolenartige Zentrum einer Stadt, die unweigerlich an Paris erinnert. Wenn kurz vor Schluss von einer „Stadt der Lichter“ die Rede ist, sollte sich jedwedes Rätselraten hinsichtlich der Frage, welche Stadt hier erwandert wird, eingestellt haben.

Abseits der Rätselhaftigkeit des Spielorts beantwortet der Text immer wieder Fragen, die er überhaupt nicht gestellt hat. Als bestes Beispiel dafür dient die Frau, neben der der Schauspieler zu Beginn der Erzählung am Morgen aufwacht. Sobald diese Frau aus dem Haus des Schauspielers gegangen ist, besteht für den Leser gar keine Frage, ob die beiden sich wiedersehen. Es scheint auch für den Verlauf der Geschichte von Anfang an völlig unwichtig zu sein. Von daher ist es umso verwirrender, wie ausgiebig die Situation beschrieben wird, in der die Frau in einem Café sitzt und zufällig dort vom Schauspieler entdeckt wird, als er gerade ins Innere der Stadt vorgedrungen ist. Da die Beziehung der beiden weitestgehend in der Schwebe bleibt und kaum unterfüttert wird, bleibt dieses unsicher wirkende Geplänkel reines Füllmaterial des Textes. Hinzu kommt auch noch ein kompliziertes Familienleben durch einen fern der Heimat lebenden Sohn, was die erzählte Geschichte vor allem dann unnötig emotional überfrachtet, wenn der Schauspieler in selbstgerechtem Ton einen kitschigen Brief verfasst, in dem er den Sohn um Vergebung bittet. In besagtem Brief verwendete Formulierungen wie: „Ich sah Dich als Erdenwurm, und mich als den Retter“ sollten für sich sprechen und Beweis genug sein für den unkontrolliert rechtfertigenden Ton, den Handke an dieser Stelle gewählt hat, damit der Schauspieler sein Versagen als Vater entschuldigen und die Verurteilung durch seinen Sohn erwarten kann.

Dass vor allem in der Figurenkonzeption so viel Pulver verschossen wurde, ist bedauerlich. Ein Zurückschrauben der offensichtlichen poetologischen Verfahrensweise, die sich an der Naturwahrnehmung des Schauspielers entlanghangelt, zugunsten einer genaueren Ausdeutung des Beziehungs- und Familienlebens des Schauspielers hätten der Erzählung ungemein gut getan und das Geschehen sehr viel greifbarer gemacht.

Nichtsdestotrotz gibt dieser Text ein paar Aspekte her, die zu seiner Ehrenrettung beitragen. Mal wieder ist man bei diesem Autor fasziniert von einem gelungenen im Text untergebrachten Motivnetz, dass sich durch die Erzählung spinnt. Immer wieder tauchen Adler auf, die den Weg des Schauspielers mit ihren herabfallenden Federn pflastern und zugleich unheilvoll auf den großen Fall am Ende des Tages hindeuten. Auch die Beweggründe für den müßiggängerischen Lauf des Schauspielers sind mehr denn ausreichend motiviert. Da der Schauspieler am Tag, der auf den großen Fall folgen wird, in einem Film einen Amokläufer spielen soll, wirkt die Wanderung ins Innere der Stadt wie eine Übung für den anstehenden Filmdreh. Es ist ein Laufen um der Freiheit willen. In der detaillierten Beschreibung der Wahrnehmung, die Eindrücke ungefiltert wiedergibt, kombiniert mit einem glasklar schneidenden Blick auf Mensch und Natur, wirkt das Fortschreiten des Schauspielers wie ein Amoklauf, der ohne Tote und mit dem großen Fall endet.

Aber was ist eigentlich der titelgebende große Fall? Das bleibt bis zum Schluss unklar.

Wer noch einmal Handkes 1972 erschienene autobiographische Erzählung „Wunschloses Unglück“ über den Suizid seiner Mutter zur Hand nimmt, kommt einer Lösung vielleicht ein kleines Stück näher. Schließlich heißt es dort an einer Stelle: „Sie brachte die Augen nicht mehr zu. In ihrem Bewußtsein ereignete sich der GROSSE FALL.“ Ist der große Fall neununddreissig Jahre später wieder die Vorausdeutung zu einem Selbstmord? Dies bleibt wohl ein Geheimnis. Wie so vieles bei Peter Handke.

Peter Handke: Der große Fall

Suhrkamp

Berlin 2011

279 Seiten – 24,90 €


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