Ich sehe was, was du nicht siehst

Marie NDiayes Selbstporträt in Grün ist ein kleines, aber umso schwerer verdauliches Buch

Manchmal haben zwei Autoren, auch wenn man felsenfest davon ausgeht, dass dem nicht so ist, irgendetwas gemeinsam. So zum Beispiel Michel Houellebecq und Marie NDiaye. Sowohl die 1967 geborene und mittlerweile in Berlin lebende Autorin, die in Deutschland immer noch eher als Geheimtipp zu verorten ist, als auch der größte Starautor, den Frankreich momentan neben Fréderic Beigbeder zu bieten hat, wurden mit dem wichtigsten Preis des französischen Literaturbetriebs geadelt: dem Prix Goncourt. Als Marie NDiaye den Preis 2009 für ihren Roman Drei starke Frauen (2010 bei Suhrkamp erschienen) erhielt, war sich die Kritik einig, dass man mit dieser Preisvergabe eine große Autorin auf dem Höhepunkt ihres Schaffens würdigt. Bei Houellebecq hingegen herrschte ein Jahr später erst einmal das Prinzip Zweifel vor. Ob der umstrittene Skandalautor einen dem Prix Goncourt würdigen Roman verfassen könne, sorgte in den französischen Feuilletons für Diskussionen.

Nicht unerheblich ist jedenfalls die Unterschiedlichkeit dieser beiden Autoren hinsichtlich ihrer Schreibe und vor allem ihrer Konzeption von Frauenfiguren. Während die Frauen in Houellebecqs Büchern meist die Liebesdienerinnen von verzweifelten nihilistischen Weltenbummlern darstellen, so sind sie bei Marie NDiaye ausdifferenzierte Individuen mit Stärken und Schwächen, hinter denen sich eine dramatische Geschichte verbirgt. In Marie NDiayes 2005 in Frankreich und nun auf Deutsch auch in der von Denis Scheck herausgegebenen Reihe „Arche Paradies“ erschienenen Buch Selbstporträt in Grün ist dies ein wenig anders. Dieses Buch ist fast abseits der für NDiaye üblichen Geschichten großer Frauenschicksale ein weiterer eindrücklicher Beweis dafür, dass Literatur ungemein viel mit Wahrnehmung zu tun hat. Sowohl für Schriftsteller als auch für Leser.

Genau darin liegt auch die Spannung dieses schmalen Buches. Es stellt nicht nur die Wahrnehmung der Autorin, sondern auch die des Rezipienten gekonnt auf die Probe. Dafür braucht es nicht einmal eine konkrete Handlung. Viel eher handelt es sich bei diesem Text um eine Montage von Wahrnehmungsprotokollen, die sich zeitlich zwischen 2000 und 2003 ansiedeln und eingerahmt werden von einer Beobachtung des Wasserstandes der Garonne. Diese Exkursion in südwestfranzösische Gefilde wirkt am Anfang wie ein zusätzliches Geheimnis, bildet aber am Ende eine geglückte Pointe des Textes.

Die schönste und eindrücklichste Stelle im Buch, in der ersichtlich wird, was die Autorin scheinbar wirklich will, findet man am Anfang des Buches, nämlich dann, wenn die Erzählerin ihre Kinder zur Schule bringt, wie sie es jeden Morgen tut. Auf dem Weg zur Schule sieht sie vom Auto aus jeden Tag die „Frau in Grün“, die immer neben einer Bananenstaude im Garten des immer gleichen Hauses steht. Ist diese Frau real? Ist sie wirklich nur eine Frau in Grün? Stellt sie überhaupt eine Bedrohung dar? Ist die Frau in Grün ein Erinnerungsschnipsel aus früheren Tagen, der sich wie ein Film immer wieder über die Lebensrealität der Erzählerin legt? Ob die eigene Wahrnehmung der der Kinder gleicht? Über diese für den Text äußerst wesentlichen Fragen räsoniert die Erzählerin (oder doch die Autorin?) gekonnt und lässt ganz beiläufig den ins Auto strömenden Duft von am Wegrand blühenden Pfeifensträuchern und Geißblättern aus den Buchseiten aufsteigen.

Eine weitere drängende – wenn auch im Text nur implizit gestellte Frage – liegt darin, wer denn hier eigentlich erzählt. Die Erzählstimme sagt zwar klar und deutlich „Ich“, aber ob es wirklich das Ich der Autorin ist, welches sich preisgibt und somit das Titelversprechen des „Selbstporträts“ einlöst, bleibt bis zum Ende fraglich. Nicht nur, dass die Erzählerin ihren Namen nicht verrät, hinzu kommt noch, dass bestimmte biographische Koordinaten der Erzählerin von denen der Autorin abweichen. So spricht die Erzählerin beispielsweise von fünf Kindern, während Marie NDiaye nur drei hat. Das sind zwar Kleinigkeiten, aber sie sorgen bei einem informierten Leser, der weiß, wievielfache Mutter die Autorin ist, effektiv für Verwirrung wenn. Vor allem, wenn die bedeutend wichtigeren Gemeinsamkeiten wie das Dasein als Schriftstellerin und der senegalesischer Vater bei Erzählerin und Autorin übereinstimmen. Nach einer gewissen Zeit stellt sich beim Lesen das Gefühl ein, dass man eigentlich völlig verloren ist in diesem kurzen Text. Ob das gut ist? Das kommt ganz drauf an, was für ein Typ Leser man ist. Wer gewisse Ansprüche an Literatur stellt, der befreit sich auch gerne aus diesem etwas wustigen, kryptischen Text und versucht die Wahrnehmung der Erzählerin wieder gegen die eigene auszutauschen. Schließlich ist auch das Literatur: Das Überstülpen einer anderen Identität, gekoppelt an den ewigen Eskapismuswunsch eines jeden Lesers.

Letztendlich entzieht sich dieses schmale Buch jedweder Genrekategorisierung. Es ist eigentümlich und seltsam, zugleich gibt es aber auch ungemein dramatische und beunruhigende Momente beim Lesen, die für die ständige Verunsicherung entlohnen. Zugegeben: Es ist ein schwieriges Buch, aber es bezeugt wieder einmal die Virtuosität einer Autorin, deren Bücher man am Ende zuschlägt und sich fragt: Wie hat sie das nur gemacht?

Marie NDiaye: Selbstporträt in Grün

Arche Verlag

Zürich 2011

128 Seiten – 
18 €

www.arche-verlag.com

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