„Schreiben ist immer wieder eine Herausforderung“

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Stamm über Schreibschulen, Literaturhandwerk und seinen aktuellen Erzählungsband „Seerücken“

Beim Schreiben läuft Keith Jarrett: Peter Stamm (Foto: Gaby Gerster)

Peter Stamm, geboren 1963 schweizerischen Kanton Thurgau, debütierte 1998 mit dem Roman Agnes. Mittlerweile sind drei weitere Romane erschienen. Sein aktueller Erzählungsband Seerücken (erschienen bei S. Fischer) war dieses Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Fabian Stiepert, Leipzig-Almanach: Momentan befinden Sie sich auf Lesereise. Welche Bücher haben Sie als Reiselektüre dabei?

Peter Stamm: Ich habe für mich privat einen Roman von Tim Parks mitgenommen sowie ein Buch, welches ich mehr für meine Arbeit als Schriftsteller lese, Rudolf Ottos Das Heilige.

Stiepert: Sind Lesereisen besonders ergiebige Quellen für Geschichten?

Stamm: Eigentlich nicht. Das liegt vor allem daran, dass es immer gleich abläuft. Es ist ja auch keine Recherchereise, bei der ich konkret auf der Suche nach etwas bin. Zudem habe ich auch gar nicht die Zeit, zum Beispiel hier in Leipzig noch ins Museum zu gehen oder mir die Stadt wirklich anzusehen, wenn man abends immer etwas vorhat und morgens schon weiter reist. Manche Schriftsteller schreiben ja auch ganze Bücher nur über Lesereisen, ich könnte das nicht. Dafür ist es jedes Mal einfach zu gleichförmig vom Ablauf her.

Stiepert: Schreiben Sie überhaupt auf Reisen?

Stamm: Es ist weniger geworden. Es war früher einmal mehr.

Stiepert: Gibt es bestimmte Grundbedingungen oder eine Umgebung, die Sie zum Schreiben brauchen?

Stamm: Der Zug ist dafür gar nicht schlecht. Dort kann ich relativ ungestört am Laptop arbeiten. Ich mag es natürlich nur nicht, wenn mir mein Sitznachbar auf den Bildschirm guckt. Dann klappe ich den Laptop auch wieder zu. Beim Schreiben höre ich dann ganz gern Musik nebenbei.

Stiepert: Welche Musik ist das gewöhnlich?

Stamm: Häufig ist es klassische Musik. Öfter aber auch Jazz, bevorzugt mit Klavier. Keith Jarrett läuft dann meistens. Hauptsache es ist Musik ohne Gesang.

Stiepert: Lenkt Sie Gesang, egal in welcher Sprache, beim Schreiben ab?

Stamm: Ja, fremde Stimmen stören mich und die Konzentration geht dann verloren. Vielleicht ist es auch die Angst, dass die fremden Stimmen Eingang in den Text finden würden. Das könnte ja durchaus passieren.

Stiepert: Was halten Sie von solchen Schriftstellerausbildungsstätten wie dem Deutschen Literaturinstitut hier in Leipzig, vor allem wo Sie selbst einmal am schweizerischen Literaturinstitut in Biel doziert haben?

Stamm: Da kann man nur das sagen, was fast alle sagen: Manch einem mag das helfen, den einen oder anderen bringt es nicht weiter. Man kann hier zu keinem endgültigen Urteil kommen. Meine Dozentur war auf jeden Fall eine Erfahrung.

Stiepert: Ist Literatur also größtenteils Handwerk, das erlern- und dozierbar ist?

Stamm: Man weiß es eben nicht genau. Häufig fand ich es einfach sehr schade, dass die Studenten so jung waren. Es braucht meiner Meinung nach doch eine gewisse Reife, um einen guten Roman zu schreiben. Vielleicht hat es auch meinem Roman Agnes relativ gut getan, dass es lange gedauert hat bis er fertig und letztendlich auch publiziert wurde.

Stiepert: Als Absolvent solcher „Schreibschulen“ versucht man als Schriftsteller Fuß zu fassen. Was würden Sie jungen Autoren raten, die sich auf das Schriftstellerleben einlassen?

Stamm: Wer mit dem Wunsch reich und berühmt zu werden an diesen Beruf herangeht, der sollte am Besten einen anderen Lebensweg einschlagen. Beim Schreiben sollte man nicht egoistisch sein. Immer wenn ich schreibe, denke ich gleichzeitig auch einen Leser mit. Das Schreiben nur für sich selbst hat mich noch nie gereizt, dementsprechend habe ich auch nie Tagebuch geführt. Zu dieser Form konnte ich mich noch nie durchringen.

Stiepert: Wenn man mit den Lesern ihrer Bücher spricht oder sich selbst beim Lesen ihrer Bücher beobachtet, dann wird häufig deutlich, dass es schwer fällt, Sympathie für Ihre Charaktere zu empfinden. Mögen Sie denn Ihre Charaktere?

Stamm: Ich würde es so sagen, dass ich Verständnis für die Figuren habe. Aber ohne eine gewisse grundlegende Sympathie würde ich gar nicht erst über sie schreiben wollen. Es muss einfach irgendetwas da sein, was mich an den Figuren reizt.

Stiepert: Sie sind sich also der schmerzhaften Wirkung Ihres glasklaren Blickes auf die Figuren bewusst?

Stamm: Das schon. Aber ein Buch muss doch auch immer eine gewisse Reibungsfläche bieten. Ich möchte auch gar kein Buch lesen, wo das nicht vorhanden ist. Ich würde mich sofort langweilen. So gesehen wäre es auch nicht wünschenswert, dass das perfekte Buch existiert oder geschrieben wird, auch wenn viele Autoren das versuchen. Ein perfektes Buch würde aber nichts bieten, an dem man sich als Leser reiben könnte. Beim Lesen muss für mich irgendeine Form der gedanklichen Auseinandersetzung stattfinden.

Stiepert: Es gibt da folgendes Zitat von Ihnen: „Ich hatte und habe nie das Gefühl, ganz das zu erreichen, was ich erreichen will.“ Haben Sie nach vier Romanen und ebenso vielen Bänden mit Kurzgeschichten den Eindruck, dass Sie sich diesem Unbekannten nähern?

Stamm: Nein, nicht wirklich. Und selbst wenn ich irgendwann dort angekommen wäre, würde ich nicht mehr weiter schreiben wollen, weil der allgemeine Reiz des Schreibens für mich verloren gegangen ist. Dazu muss man auch sagen, dass das Schreiben eines Romans einen immer wieder vor eine Herausforderung stellt. Ich habe mich darüber letztens erst mit der Schriftstellerin Judith Kuckart unterhalten und wir kamen beide zu dem Ergebnis, dass man immer wieder vor dem weißen Blatt Papier sitzt und sich denkt „Ich weiß eigentlich gar nicht, wie das geht.“ Dieses Gefühl wird sich auch nach dem x-ten Roman nicht einstellen.

Stiepert: Aber eine stilistische Steigerung und Weiterentwicklung können Sie auch aus Ihren Texten herauslesen?

Stamm: Naja, schon. Es ist aber eher so, dass man irgendwann merkt, dass man eben etwas mehr kann. Die Mittel, die man wählen kann, sind mehr geworden. Aber auch das erlöst einen nicht von dieser Herausforderung, vor die man durch das Schreiben eines Romans gestellt wird.

Stiepert: Die Erzählung Der Lauf der Dinge in Ihrem aktuellen Erzählungsband Seerücken beschreibt den ereignislosen Urlaub eines Pärchens und gehört zu den eindrücklichsten in diesem Band. Aber warum dieses hochdramatische Ende mit einem toten Kind? Hätte nicht auch eine kleinere Erschütterung gereicht, um die Protagonisten aus ihrer Lethargie zu reißen?

Stamm: Das Ende der Geschichte hat persönliche Gründe. Ein Bekannter von mir hat so etwas im Urlaub selbst miterleben müssen. Es hat sich einfach angeboten und der Anreiz darüber zu schreiben, war auch sofort da. Wobei ich die Geschichte im Buch insofern abgemildert habe, indem ich das Pärchen den Tod des Kindes nicht mitansehen lasse und sie erst nach dem Unfall den Krankenwagen und die Polizei anrücken sehen.

Stiepert: Hat es Sie gereizt, den „Schutzraum Urlaub“ im Rahmen der Erzählungen Der Lauf der Dinge und Sommergäste zu dekonstruieren?

Stamm: Ich sehe die Geschichte eher als Zustandsbeschreibung eines normalen Urlaubs. Es ist alles relativ typisch, was da passiert. Es gibt doch immer Italiener, denen es nicht gefällt, dass die Deutschen kein Italienisch sprechen oder es schlecht vortäuschen, dass sie es könnten.

Stiepert: Die Erzählung Das Mahl des Herren beschreibt, wie ein Pfarrer ohne Publikum seinen Sonntagsgottesdienst abhält. Was bewahrt diesen Mann davor, nach Hause zu gehen? Ist es nur sein Glaube oder sind es weitreichendere Gründe?

Stamm: Ein Gottesdienst ist ja nicht einfach irgendeine Veranstaltung. Es ist ein Ritual mit einer Regelmäßigkeit. Das sagt man nicht so einfach ab und wenn der Pfarrer mal nicht kann, dann macht es eben jemand anderes. Wenn man so argumentiert, dass man bei fehlendem Publikum den Gottesdienst nicht durchführt, dann könnte man auch das Läuten der Kirchenglocken ausfallen lassen, nur weil da genauso niemand anerkennend hinhört. Ich zumindest kann es absolut verstehen, dass er nicht nach Hause geht und es hat sicherlich einerseits mit seiner Berufsehre, andererseits aber auch mit seinem Glauben zu tun. Da kommt beides irgendwo zusammen.

Stiepert: Zum Abschluss eine sehr übliche Frage, die aber immer wieder spannend ist: Gibt es schon Pläne für das nächste Buch?

Stamm: Momentan arbeite ich an einem neuen Roman, aber mehr möchte ich dazu noch nicht sagen.

Stiepert: Herr Stamm, vielen Dank für das Gespräch!

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